Wie lebenserhellend Literatur sein kann, zeigt sich erst, wenn man ein Unglück in der Provinz nicht als Krimi, sondern als echten Text liest. Die Folie Krimi nämlich hat mittlerweile die Lesefähigkeit von relevanter Literatur flächendeckend zerstört oder zu einem nichtssagenden Zeitvertreib verkommen lassen.
Hans Platzgumer präsentiert mit „Bogners Abgang“ einen echten Roman, wiewohl es darin auch um Tod, Kriminalität und Provinz geht. Zwei Handlungsstränge stürmen aufeinander zu, verzopfen sich ineinander und hinterlassen schließlich westernmäßig kaputte Helden.
Ein Künstler und eine Studentin haben vorerst nichts anderes im Sinn, als in Innsbruck ihr Leben den Umständen anzupassen. Die Studentin Nicola rast nach einer Woche Uni am Wochenende stets heim nach Bregenz, weil es in Innsbruck nicht leicht ist, substanziellen Kontakt zu finden, der Künstler Bogner verkriecht sich in immer ausgefallenere Projekte, seit er von einem gefürchteten Kunstkritiker zur Sau gemacht worden ist. Und dieser Kunstkritiker kommt gleich doppelt zu Tode, einmal zufällig und ein andermal beabsichtigt, was ihm aber ziemlich egal sein dürfte.
Die beiden Erzählstränge handeln von einem tödlichen Unfall, den die Studentin am Wiltener Platzl auslöst, indem sie nach einer Feier mit dem mütterlichen Auto eine dunkle Gestalt überfährt. Als Leser zittern wir ab nun mit der Fahrerflüchtigen, ob sie entdeckt wird oder nicht. Die Moral sagt ja, Aufklärung, der gesunde Reflex sagt nein, Psyche schonen. Erst als die Heldin innerlich genug aufgewühlt und zerstört ist, stellt sie sich der Polizei.
Eingearbeitet in diese Fluchtgeschichte ist der Plot um einen Mord, der mehrfach keiner ist. Zum einen sind in der Mordwaffe bloß Platzpatronen, was aber der Täter nicht weiß, zum anderen fällt der Schuss genau zu jenem Zeitpunkt, als die Studentin den Unbekannten überfährt. Der Täter freilich bricht unter dieser Zufallslast zusammen und benimmt sich wie ein echter Mörder, indem er seinen Suizid in die Wege leitet. – Der Künstler Bogner macht einen Abgang.
In einer Kleinstadt von der Größe Innsbrucks ist das Leben einerseits eng wie die Kunst und weit wie der Verkehr. Die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu überfahren oder in der Kunst einen Durchbruch zu erzielen, ist in der Provinz gleich hoch.
Während die Studentin alles hinnimmt, was so üblich ist, und daher als unauffällige Heldin umso verblüffter ist, als ihr das Schicksal eine böse Rolle zuteilt, versucht der Künstler alles richtig zu machen, indem er eine Kunsttheorie zuerst entwickelt und dann bis an die Grenze ausführt. Bogner freilich hat einen entscheidenden Makel als Künstler, er hat nie ums Überleben kämpfen müssen, weil er als wohlbestalltes Erbstück der Gesellschaft sich nie hat um existenzielle Markierungen kümmern müssen. Das kreidet ihm der Kunstkritiker auch an, er hält Bogners Kunst für Luxus und muss logischerweise deshalb im Roman sterben.
Über weite Seiten ist der Roman nämlich eine Auseinandersetzung mit dem Wesen der Kunst, die im Endeffekt mit dem Tod des Künstlers enden sollte. Zumindest glaubt das Bogner, und arbeitet an einem Projekt, bei dem er sich mit Trockeneis zu Tode bringen will, indem er auf dem Boden liegend wartet, bis das Eis geschmolzen ist und den Raum mit tödlichem Gas ausgelegt hat. Dieser Versuch findet in Genua im Rahmen eines Kunststipendiums statt. Aber obwohl es zuerst abgebrochen wird, kann es vielleicht eines Tages noch von Nutzen sein, wenn der Held abtreten will.
Die echte Kunst in der Provinz muss aber handgreiflich und haptisch sein. Aus diesem Grund leiht sich der Künstler vom Schwiegervater eine Pistole aus, die angeblich scharf geladen ist. In verschiedenen Todesannäherungen tastet sich der Künstler an dieses tödliche Leitmotiv heran, berührt es, umgreift es, zeichnet es, verwirft alles, ehe er dem Psychiater das Elend klagt, keine richtige Kunst auf Leben und Tod zustande zu bringen.
Zum Showdown trinken sich dann alle drei mehr oder weniger absichtlich an die wahre Todesgrenze heran. Die Studentin gestattet sich einen alkoholischen Ausreißer und fährt dann doch mit dem Auto, der Kunstkritiker säuft jeden Tag am Wiltener Platzel und ahnt nicht, dass dieser unscheinbare Ort ein großes Schicksal für ihn parat hält, und Künstler Bogner betrinkt sich, um dem Kritiker endlich die Meinung zu sagen. Die mitgeführte Waffe soll alles entscheiden, trifft er, ist es gut, trifft er nicht, geht die Kunst weiter. Dass diese drei Komponenten aufeinandertreffen, ist die unerhörte Begebenheit dieses Romans.
Hans Platzgumer inszeniert „Bogners Abgang“ durchaus musikalisch, die einzelnen Helden greifen ineinander ein wie Musikinstrumente in einem wohlkomponierten Stück. Die Ernsthaftigkeit der Kunsttheorie konkurriert mit der läppischen Kleinbühne der Provinz. Und die Pistole als Leitmotiv dient als Warnung, dass gutes Erzählen leicht in einem Krimi abflutschen könnte, wenn Erzähler oder Leser nicht aufpassen.
Hans Platzgumer freilich hält den Abgang des Helden bravourös auf Kurs. Als Innsbrucker weiß man es zu schätzen, wie sarkastisch die Location dieser Stadt ausgeleuchtet ist, die letztlich für alle kleingeistigen Unternehmungen zu groß ist.
Hans Platzgumer: Bogners Abgang. Roman.
Wien: Zsolnay 2021. 140 Seiten. EUR 20,60. ISBN 978-3-552-07204-6.
Hans Platzgumer, geb. 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz.
TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2262, geschrieben am 07.03. 2021