Anfang 1933 hielt sich Lili Körber in Berlin auf und wurde so Zeugin der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland. Sie verarbeitete das, was sie dort beobachtete, in dem teils fiktionalen, teils dokumentarischen Roman. Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland, später neu aufgelegt unter dem Titel Die Ehe der Ruth Gompertz. Davon war an dieser Stelle ja schon die Rede. Eine Zeit später, die uns heute kurz erscheinen mag, damals aber wohl viel länger wirkte, erlebte sie den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich, die Machtergreifung der Nazis in diesem Lande, kurz: den Anschluss. Und auch daraus gestaltete sie einen Roman: Eine Österreicherin erlebt den Anschluss.
Von der Struktur und der Technik her ist er ähnlich dem ersten. Wieder haben wir’s mit einer Liebesgeschichte zu tun, die sich der brutalen Wirklichkeit der Nazis gegenübersieht. Die Erzählung umspannt den Zeitraum vom 12. Februar 1938, also dem Tag des fatalen Treffens von Hitler und Schuschnigg am Berghof, bis zum 18. März. Wieder wird die Erzählung unterspickt durch Reden, Proklamationen, Gesetze. Und wieder haben wir’s deswegen noch lange nicht mit einem dokumentarischen Roman zu tun oder um sonst eine literaturgeschichtliche oder ‑wissenschaftliche Marotte. Die Dokumente und die Liebesgeschichte, die gehören zusammen, sind aus einem Stück, ganz einfach deshalb, weil die Protagonisten ihr Leben, die Welt um sich herum genauso erleben. In meinen Ohren klang unablässig die Stimme meiner Mutter, wie sie mir einst erzählte, sie habe die Kapitulation Schuschniggs am Obersalzberg im Radio miterlebt, während sie auf derSeegrube in einem Liegstuhl in der Sonne lag, ehe sie in ihrer Gruppe von Freundinnen und Freunden mit den Schiern abfuhr. Die Empörung war immer noch aus ihren Worten herauszuhören.
Bei Lili Körber fungiert die junge Agnes als Erzählerin; oder genauer: als Tagebuchschreiberin, denn genau so ist der Roman konzipiert, ohne freilich je in die Monotonie zu verfallen, die dem Format ansonsten gerne anhaftet. Es gibt genug interessante Figuren, angefangen bei ihrem Freund samt seiner großbürgerlich-jüdischen Familie, weiter zu Agnes’ Chef, Dr. Loewy, sowie dessen Lektor Dr. Guggenheim; über ihre Wohnungsgenossin, eine emigrierte Russin, bis hin zu ihrem Bruder Franz und dessen Frau Mitzi, beide aufrechte Sozialisten bzw. Sozialistinnen; im Falle von Mitzi sogar ausgesprochen kämpferisch. Die Sympathien von Agnes liegen ganz eindeutig bei ihrer Familie im Karl-Marx-Hof. Das definiert ziemlich genau, wo sie steht: gegen die Nazis, klar, aber auch gegen den Ständestaat, dessen Soldaten und Heimwehrler den Karl-Marx-Hof beschossen hatten und denen so viele Arbeiter zum Opfer gefallen waren.
Nach dem 12. Februar macht sich bei Freunden, Genossen und Familienangehörigen von Agnes zunächst Niedergeschlagenheit breit. Diejenigen, die am unmittelbarsten betroffen sind, nämlich jüdische Mitbürger, flüchten sich in einen träumerischen Optimismus. Sie hoffen auf die Westmächte, womöglich gar auf Mussolini. Dann scheint Bundeskanzler Schuschnigg mit seiner Rede vom 24. Februar das Ruder noch einmal herum zu reißen. Die Nazis verschwinden kleinlaut von den Straßen, patriotische Österreicher können den Kopf wieder hoch tragen, patriotische Plakate werden auf Lastwagen durch die Straßen gefahren, österreichische Parolen skandiert. Und dann, noch einmal zwei Wochen später, ist plötzlich alles aus. Wer kann, der flieht.
Es ist Lili Körber gelungen, das Beklemmende an dieser Geschichte ergreifend zu vermitteln: das Unheil, das näher kommt, gleichgültig was der Einzelne oder die Einzelne denken, urteilen oder gar unternehmen mag. Die Nazis kriechen aus ihren Winkeln hervor, früher biedere Mitbürger entpuppen sich als Hexenlehrlinge. Ein einstmals geschasster Büroangestellter in Agnes’ Verlag taucht wieder auf, in Uniform versteht sich und mit Spießgesellen, und führt den Verlagsleiter ab. Auch von Agnes will er den Pass. Sie reagiert geistesgegenwärtig und nutzt die gewonnene Zeit um zu fliehen – nach Zürich, zu ihrem Bruder Franzl, der als Sozialdemokrat dort längst angekommen ist. Die Zugfahrt gestaltet sich noch zu einer letzten Nervenprobe, doch dann –
Plötzlich ging wieder ein Ruck durch den Zug, aber er war nicht mehr feindlich, nein. Auf dem Bahnsteig blieben die Burschen mit den braunen Hemden und den Hakenkreuzbinden zurück. Wir standen an den Fenstern mit verkrampften Fäusten. Keiner dachte daran, daß er die Heimat verließ, nur raus wollten wir, nur raus. Da, das Fürstentum Liechtenstein, schon neutraler Boden, und endlich, endlich das heißersehnte Buchs! – Alle Reisenden sahen anders aus. Alle sind wieder Menschen geworden. – Ein Beamter in fremder Uniform geht ruhig durch den Zug und verlangt die Pässe…
Agnes hat die Grenze von der Barbarei zur Zivilisation überschritten. (Ich habe Ähnliches später selbst beim Grenzübertritt am Eisernen Vorhang erlebt.)
Das wahre Ausmaß dieses Gegensatzes, das konnte Lili Körber damals freilich noch gar nicht ahnen. So wie ihre Heldin entkam sie selbst dem Zugriff der Nazis in die Schweiz. Sie ging nach Paris, wo sie den vorliegenden Roman verfasste. Veröffentlicht wurde er unter dem Pseudonym Agnes Muth (der Name der Protagonistin) noch im gleichen Jahr, also 1938, in Fortsetzungen in der sozialdemokratischen Tageszeitung Das Volksrecht in Zürich. Gerade deshalb erscheint es so bemerkenswert, wie klar die Autorin sah: was geschehen war, warum, und welche Bedeutung dem zukam. Abgeschlossen wurde die Veröffentlichung im September 1938. Zu einer Buchausgabe kam es vorerst nicht.
1941 gelangte Lili Körber mit ihrem Lebensgefährten und späteren Ehemann Erich Grave über Portugal in die USA. Sie versuchte auch dort noch zu schreiben und zu veröffentlichen, aber leider blieb der Widerhall aus, ihre Kraft und ihre Kreativität versiegten. Sie wandte sich einem anderen Betätigungsfeld zu, wurde Krankenschwester und arbeitete als solche für den Rest ihres Lebens. Davon, dass ihr von österreichischer Seite Dank, Anerkennung oder gar Ermutigung zuteil geworden wären, ist mir nichts bekannt. Typisch österreichische Schäbigkeit, würde ich vermuten; doch es ist und bleibt schade, jammerschade.
Lili Körber, Eine Österreicherin erlebt den Anschluß, Roman (Wien, München: Verlag Christian Brandstätter, 1988). Erstmals erschienen 1938.