Je globalisierter im Netz die Literatur auftritt, man spricht ja von Weltliteratur, umso punktgenauer muss sich darin die Lokalliteratur bewähren. Ein aufregendes „Lokalprogramm“ liefert dabei die Innsbrucker Verlagsbuchhandlung Wagner’sche, die als eine der ältesten der Welt schon alle möglichen Literaturformen erlebt hat. In der Serie „Erinnerungen an Innsbruck“ sind mittlerweile gut zwanzig Bände über Stadtteile, Berufe und besondere Schicksale erschienen. Umgerechnet auf die Bewohner des jeweiligen Themas erreicht diese Serie grandiose Vertriebszahlen.
Willi Giuliani beackert für das Regal „Erinnerungen an Innsbruck“ den Stadtteil Höttinger Au, der bis in die 1940er Jahre Sumpf, Brache und aufgelassene kaiserliche Jagd gewesen ist. Der Stadtteil wird ähnlich entwickelt wie der sogenannte Wilde Westen, zumindest was Tiere und Pflanzen betrifft, wird dabei ähnlich brutal vorgegangen wie beim Feldzug amerikanischer Siedler in Richtung El Dorado. Auf das Gold umgerechnet wäre im konkreten Fall das verheißene Paradies der Innsbrucker Flughafen, auf dem ja auch tatsächlich so manches touristische Nugget geschürft wird.
Ein Dorf- oder Stadtteil- ist für die jeweiligen Bewohner so etwas wie eine Heimaturkunde, auf der bescheinigt wird, dass die dargestellten Ereignisse einmalig und weltoffen zugleich sind. Der Autor des Western-Buchs bewältigt diese zwei Informationskanäle souverän, in vierzehn Stationen führt er als Chronik-Guide durch die Siedlung und verknüpft das Erzählte mit den großen Dingen der Welt. So wird zur Eröffnung des Flughafens die Mutter des Erzählers unerwartet schwanger, was zwar kausal nichts miteinander zu tun hat, aber zeigt, wie die großen Dinge in einer kleinen Gasse rezipiert werden. Indem beides gleich wichtig ist, entsteht einen neue Form der Relevanz, die über den bloßen Konsum von Information hinausgeht.
Überhaupt ist das Buch als augenzwinkernde Erzählung angelegt, wobei die Heroen ihre Geschichten selbstbewusst vortragen, weil sie sich auf ihre Einmaligkeit verlassen können. Ein junger Stadtteil hat zudem den Vorteil, dass er nicht mit falschen Traditionen verstellt ist, und dass es keine patriotischen Vereine wie Feuerwehr, Musikkapelle und Schützen gibt, ist geradezu ein Glück. Den Part, den anderswo Mythen, Sagen und Familienfehden gestalten, diesen Part übernimmt für die Höttinger Au die Jagdgesellschaft Kaiser Maximilians aus dem 16. Jahrhundert.
Diesem fernen Paradies ist es geschuldet, dass heute noch Busse vom Hauptbahnhof aus in Richtung Tiergartenstraße oder Rehgasse fahren, was Erst-Touristen auf dem Weg zum Flughafen regelmäßig verzückt aber in die Irre führt. Von der Rehgasse aus nämlich kannst du nicht wegfliegen, sie ist ein poetisches Dead-end. Die Großereignisse, an denen die Höttinger Au zu einem Silikon Valley an Phantasie herangereift ist, lassen sich an zwei Fingern einer Hand aufzählen:
Gerade als der Flughafen 1964 das erste Mal die Anbindung an die Welt geschafft hat, stürzt eine britische Maschine beim Landeanflug am Glungezer ab und verbreitet dadurch ein gefährliches Image.
Die Rolling Stones verziehen sich nach dem Innsbrucker Konzert 1973 in ein entlegenes Gasthaus am Mitterweg, essen artig Steaks und lassen die Einrichtung unverwüstet. Der Rest ist amorphe Geschichte, die sich ähnlich dem Verkehrsnetz über dem Siedlungsgebiet ausbreitet. So gibt es 44 Straßen, aber keinen einzigen Platz, und die Straßennamen sind alle männlich, bis auf zwei karitative Ausnahmen.
Architektur ist ein Fremdwort, letztlich baut man im Barackenstil der 1940er Jahre ständig weiter, wenn auch mit etwas solideren Materialien. Kirche, Berufskammern, Bund und Anleger sind die wichtigsten Bauträger, den klassischen Gemeindebau sucht man vergeblich. Das Straßennetz lässt darauf schließen, dass man es von vorneherein auf nackte Unterkunft und Schlafstätte angelegt hat, das Leben sollte sich woanders abspielen.
Diesem Nicht-Konzept schlagen freilich die Bewohner schon seit drei Generationen ein Schnippchen, indem sie die Sinnesorgane auf die Gegebenheiten kalibrieren.
Mitreißend ist die Eröffnungssequenz des Western, als für den Erzähler als Kind der ganze Stadtteil nach Apfel riecht. In diesem Bild kommt das Geheimnis des Erzählens zum Vorschein: Die Literatur vermag nämlich alle Sinnesorgane anzusprechen, wenn sie die Leser erklingen lassen wollen. Im Stadtteilbuch kann man auch riechen, was in einem Dokumentarfilm nicht möglich wäre. Willi Giuliani lässt nicht nur den darin wohnenden Westlern die Unterkiefer staunend nach unten kippen, wer einmal lesen will, wie man über Tirol ohne die Insignien von Tourismus erzählen kann, sollte sich diesen schelmischen Western zu Gemüte führen.
Willi Giuliani: Ein Innsbrucker Western. Die Eroberung der Höttinger Au. Abb.Innsbruck: Wagner 2022. 177 Seiten. EUR 14,95. ISBN 978-3-7030-6579-8.Willi Giuliani, geb. 1974 in Innsbruck, lebt in Innsbruck.Helmuth
TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2311, geschrieben am 14/03/22