Unschuldig lesen war einmal, heutzutage gilt es, zuerst die politische Haltung abzutasten, ehe man sich an ein Buch wagen darf. Besonders heikel sind momentan Romane, die irgendwas mit dem „zweiten putinschen Krieg“ (2022) zu tun haben.
Alexei Salnikows Roman „Petrow hat Fieber“ aus dem Jahr 2016 spielt im Russland der Vorkriegszeit, handelt vom Delirium der Postsowjetischen Gesellschaft in den Nuller Jahren und ist als russischer Text stark ausgrenzungsgefährdet. Die Sache wird ein wenig erleichtert, da der Autor zwar in Jekaterinburg gewirkt hat und dort auch den Romans spielen lässt, aber selbst im heutigen Estland geboren ist, was ihm euro-baltische Sympathien entgegenbringt.
Das Grunddilemma ist freilich: Wie kann jemand in einer von staatlichen Medien gesteuerten Gesellschaft realistisch schreiben, ohne nicht selbst Teil dieser Steuerung zu sein? Die Frage bleibt ungelöst, weil sie das eigentliche Thema des Romans ist.
Mit der Übersetzung des Romans ins Deutsche wird auch die Verfilmung auf internationalen Festivals vorgestellt. Die Lektüre soll nicht nur bestätigen, ob der Roman wohl richtig verfilmt worden ist, sondern als Baustein jenes Genres aufleuchten, das wir als postsowjetische Chaosliteratur notdürftig beschreiben. In diesem Zusammenhang ist für Westler interessant, dass russische und ukrainische Romane dieses Genres ähnlich wirken.
Da es sich beim „Gripperoman“ um eine Hochgeschwindigkeitsleistung an Gleichzeitigkeit handelt, ist es nicht leicht, so etwas wie einen Plot herauszulesen.
Der ehemalige Automechaniker und Hobby-Cartoonist Petrow macht jene Grippe durch, die sich Gesellschaft nennt. Alle sind matt, angetrunken, fiebrig und von Träumen illuminiert. Nichts ist das, als was es sich ausgibt, jeder Satz und jedes Bild sind Anspielung oder Deutung jenes Zustands, den eine anonymisierte Stimme gleich zu Beginn äußert: „Im Fernsehen zeigen sie jetzt all so’n Zeug, aber man darf ja nichts mehr sagen.“ (11)
Und in einer aus Alkoholteilchen entstöpselten Gesprächseinheit sagt jemand, das allgemeine Elend zusammenfassend: „Im Grunde genommen bringt das alles nichts!“ (39)
In neun Stationen geht es um eine Grippewelle rund um Weihnachten und Neujahr, die alle sozialen Schichten befällt. Arbeitswelt, Begräbniskult, Weihnachtsfest, Kleinfamilie und Nachhilfestunde sind ideale Horte zur Ausbreitung der Grippe. Wenn zwei zusammenkommen, hat einer davon die Grippe mit Sinnestäuschungen, sodass jede Szene einmal real und einmal fiebrig empfunden wird.
Das Verbindungsmittel zwischen den Roman-Stationen ist der Trolleybus, der in der Banlieue Jekaterinburgs unterwegs ist und worin jede Begegnung mit Fahrgästen skurril oder rabiat endet. Auch der Mechaniker Petrow wird zu Beginn von arbeitsmeuternden Kollegen abgefangen und aus dem Bus geholt, sie haben schon vorgeglüht und sind in Feiertagsstimmung. Vorsichtshalber haben sie einen Leichenwagen entführt, weil man damit betrunken fahren kann. Ob im Sarg jemand liegt und wie tot er ist, bleibt bis zum Schluss ein Rätsel.
Der Leichenwagen quält sich durch jenes Gelände, das Russland unverwechselbar macht, zum Teil Brache, zum Teil abgewrackte Industriehallen, zum Teil abgeschirmte Datscha-Gärtlein, das Land befindet sich in einem undefinierbaren Zustand zwischen undefiniertrn Parametern.
Ähnlich dem Gelände sind auch die darin eingebetteten Soziotope amorph. Ein gescheiterter Cartoonist, ein abgedrifteter Wissenschaftler und ein Kleinunternehmer im paramilitärischen Bereich unterhalten sich vage über die Zukunftslosigkeit des Landes und das Chaos, beim Zusammenfall der Sowjetunion. Alle festen Haltegriffe an Bildung und Wissen gehen auf das untergegangene Reich zurück. Die Gegenwart ist ein Diffusum, das in allen Kategorien Einzug gehalten hat.
Nachdem die Trinkertruppe rund um den Leichenwagen im Delirium versunken ist, schafft es Petrow nach Hause, wo ihn ein Grippe-Anfall vollends erwischt. Die Frau ist seit der Scheidung ständig bei ihm zu Hause, weil man geschieden erst richtig zusammenleben kann, der Sohn genießt die Freiheit, abwechselnd von beiden Elternteilen verwöhnt oder in Ruhe gelassen zu werden.
Die Scheidung entwickelt sich als Glücksfall, weil der eine Partner nicht mitverurteilt werden kann, wenn der andere was anstellt. Und Frau Petrowa steht mit einem Bein stets im Kriminal, weil sie als Bibliothekarin beim den gelesenen Stoff nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden kann. Häufig träumt sie von geglückten Morden, und Petrow ist sich nicht sicher, ob nicht der eine oder andere schon passiert ist.
Als der Sohn in den Fieberwahn verfällt, rafft man alle Medikamente zusammen, die seit dem Ende des Vaterländischen Krieges im Land produziert worden sind, und füttert ihn damit. In einem Doppeldelirium aus Medikamenten und Fieber wird schließlich das Weihnachtsfest begangen, wobei die Nerven blank liegen, denn überall schlägt die eigene Kindheit mit ergreifenden Bildern aufs Gemüt.
Rund ums Fest kommen endlich jene Berufsgruppen zum Einsatz, die das Jahr über sich prekär durchs Leben schlagen müssen. Künstlerinnen, Musiker, Schriftsteller – der ganze Kunstbetrieb ist eine in den Untergrund gestopfte Elendsgesellschaft, die einmal im Jahr feierlich an die Oberfläche sprudeln darf.
Eine Protagonistin dieser Lebensform ist die Englischlehrerin Marina, die einem Siebzehnjährigen Nachhilfe gibt und offensichtlich dabei schwanger wird. Jetzt muss sie noch das Fest abarbeiten, dann geht es an die Abtreibung. „Wozu die Scheiße!“, (362) ist eine einleuchtende Begründung für diesen finalen Schritt.
Alexei Salnikow zeigt in der Grippeglut schmorende Protagonisten, denen der Wirklichkeitssinn abhanden gekommen ist. Aller Zuversicht entleert lässt sich mit diesen Helden kein Staat machen, oder umgekehrt: Der Staat hat die Untertanen bereits dermaßen vom Sinn entleert, dass von diesen Helden keine Störung zu erwarten ist. „Ich bin steril“, (320) sagt ein gewisser Igor und meint damit Zeugungskraft, Denken und Überleben.
Alexei Salnikow: Petrow hat Fieber. Gripperoman. A. d. Russ. von Bettina Kaibach. [Orig.: Petrovy v grippe i vokrug nego; AST 2016].
Berlin: Suhrkamp 2022. 364 Seiten. EUR 25,70. ISBN 978-3-518-43086-6.
Alexei Salnikow, geb. 1978 in Tartu, lebt in Jekaterinburg/Ural.
GEGENWARTSLITERATUR 3147, geschrieben am 27.11.2022