Aber schon gar nichts.
Hier geht es nur am Rande um die Erarbeitung und Umsetzung von körperlichen Automatismen und die Schulung einer wettkampftauglichen Konzentration. Nein! Wirkliches Bogenschießen ist eine reine Verkörperung des Lebens. Das Ziel vor dem Auge. Körper und Geist vereint im ästhetischen Wollen. Fokussiert. Aufeinander abgestimmt. Voneinander abhängig. Ein Lehrstück der solidarischen Zusammenarbeit von Gestalt und Willen. Der Einzelkämpfer als Mannschaft aus Geist und Körper, aus Zielgerichtetheit, Härte, Siegeswillen und Kaltblütigkeit. Die Askese des Reinen. Ohne auf irgendeinen Partner, einen Mitspieler angewiesen zu sein.
Endlich frei von diesen dumpfen, pubertären Vergleichen: Wer ist schneller? Wer springt weiter? Wer schwimmt besser? Wer hüpft vom Zehner? Wer ist stärker? Wer ist größer? Wer hat den größeren?
Immer diese ungerechte Konkurrenz. Und immer diese von der Natur so reich beschenkten Athleten, die nicht einmal ins Fitnessstudio gehen müssten, um einen perfekten Körper zu haben.
So blieb für den jungen Herbert K. schon damals nur seine Wortgewandtheit, sein flinker Geist und seine Fähigkeit ein paar stärkere, aber intellektuell nicht so bewanderte Mitschüler vorsorglich um sich zu scharen, falls er wieder einmal seinen Mund zu voll genommen hatte. In Fußball war er eine Niete. Genauso im Völkerball. Er war jedes Mal bei den letzten die in eine der beiden Mannschaften gewählt wurden. Und in der Leichtathletik … Schwamm drüber.
Das war lange her. Viele Jahre. Und er hatte aufgeholt. Verdammt gut aufgeholt. Mit Disziplin und eisernem Willen. Kein Schmerbauch ab dreißig. Kein Übergewicht. Er wusste um die gesundheitlichen Gefahren eines Lebens in der Politik. Zu wenig Schlaf, zu wenig Bewegung, ungesundes Essen, Alkohol, zu viele Termine, zu viel unnützes Händeschütteln.
Helmut Kohl, Franz Josef Strauß, Hermann Göring, der späte Kreisky. So würde er nicht enden. Schnell wie ein Windhund! Auch wenn ihm das Laufen in der Schule zuwider war – Herbert K. war zum begeisterten und zähen Läufer mutiert. Und natürlich Bergsteiger! Sagen Sie niemals „Wandern“! Hinauf in die Höhe! In die heimatlichen Berge! In die Natur! Wo der Mensch noch Mensch ist!
Theaterkitsch! Kulisse. Herbert K. musste unwillkürlich schmunzeln. Aber eine Marke muss auch gepflegt werden. Aufgebaut mit Plan. Von Anfang an. Nachvollziehbar. Bei diesen hard Facts muss alles stimmen, da darf es keinen zweiten Boden geben. Bilder sind mächtig: Der Marathonmann, der Gipfelstürmer. Wer hier bei einer Unlauterkeit ertappt wird, der ist keinen Schilling mehr wert.
Man muss deshalb auch das Private um jeden Preis hüten. Ausnahmslos. Nichts ist so erstunken und erlogen wie die vermeintlichen Homestorys. Die wirklichen Leidenschaften haben unter Verschluss zu bleiben. Niemals würde sich Herbert K. beim Bogenschießen fotografieren oder gar filmen lassen. Unter keinen Umständen. Nicht einmal die nähere Verwandtschaft wusste von dieser, seiner Passion. Eigentlich war da die Frau schon ein Risiko. Naja.
Die Bögen – Herbert K. besaß mittlerweile deren fünf, darunter zwei fürs Combatschießen, auch wenn das bisher noch nicht möglich war; Gänsehaut verursachte ihm schon allein der Gedanke daran – die Bögen hatte er über einen Mittelsmann in Slowenien besorgt. Genau wie die Pfeile, die Aufbewahrungskoffer, die Unterarmschützer, die Köcher, die Zielscheiben … Die Stunde des Samurai, die Stunde des Kämpfers, der Dschingis Khan aus Kärnten, der drunten in seinem sechs Meter langen, fensterlosen Kellergang, fernab von Alltag und Zeit seinen Körper und seinen Geist bis zur Selbstaufgabe stählte.
Die Wahl des richtigen Bogens: Wie liegt er heute in der Hand, passt seine Haptik, seine Farbe? Nuancen können über Sieg oder Niederlage entscheiden. Welche Pfeile nehme ich? Welchen Armschutz?
Für Herbert K. war das essenziell. Eine Zeremonie. Die ihn von all seinen Sorgen und Ängsten befreite. Ein Monolog aus meditativer Körperlichkeit und reinem, fokussiertem Geist.
In leichtem Ausfallschritt stellte er sich hinter die Grundlinie, hob mit der Linken seinen Bogen, atmete tief durch, legte den Pfeil ein und spannte die Sehne. Einatmen. Ausatmen. Mit der Sichtachse aus Pfeil und Ziel verschmelzen. Atmen. Ausatmen. Und genau im Punkt der inneren Leere schickte Herbert K. seinen besten Pfeil auf die Reise. Perfekt. Ein Meisterschuss. Nicht aus allen Märtyrern werden Heilige. Nicht jeder ist zum Heiligen Sebastian geboren. Manche nur ganz kurz.
Man muss eben ein Ziel haben.