Schräg bei 3,5°

Über Denkmäler und Schieflagen.

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Sogenannte Stand-Denkmäler werden von der Bevölkerung ähnlich wahrgenommen wie Verkehrsschilder, nämlich gar nicht.

Nur wenn man rund ums Denkmal, vulgo Verkehrsschild, eine Übertretung begeht, bekommt man Post von der Behörde.

„Sie haben beim Denkmal soundso die Geschwindigkeit überschritten, sie haben beim Verkehrsschild sowieso nicht aufrecht darauf geschaut!“

Amtliche Begründungen müssen nicht verstanden werden, sonst wären sie ja nicht amtlich.

Ein Denkmal, das in letzter Zeit besonders oft im Behördenverkehr vorgekommen ist, ist das sogenannte Lueger-Denkmal am Stubenring in Wien.

Immer wieder haben in den letzten Jahren Passierende, Flanierende und Studierende entweder gar nicht auf das Lueger-Denkmal geschaut, oder fälschlicherweise mit geradem Blick und steifem Genick.

Beides ist eine Übertretung korrekten historischen Bewusstseins!

Im einen Fall wird die Historie des Landes und der Stadt missachtet, indem man einen seiner markanten Vertreter (Lueger) nicht einmal als Denkmal eines Blickes würdigt.

Im anderen Fall wird man ein Fall für die Behörde, weil man zu unreflektiert auf die Geschichte blickt, und die Schattenseiten und mittlerweile verpönten Eigenschaften des Denkmalhelden zu sehr schönfärbt durch aufrechten Blick.

Nach langem Hin und Her und dem Verzehr von Legionen von Gutachten und Jury-Mitgliedern gibt es endlich eine Lösung für die verzwickte Lage rund ums Steh-Werk. 

Das Denkmal wird um 3,5 Grad nach rechts gekippt und heißt ab jetzt „Schieflage“.

Jetzt zwingt das Denkmal nämlich die Schauenden, den Kopf ein wenig unsteif in die Schräge zu drehen, damit der Eindruck vom Erinnerungskunstwerk intakt bleibt.

Die Jury wird international gelobt für diesen geilen Schachzug, mit dem sich künftig jeder verfahrene Blick auf die Geschichte etwas aufzulockern lässt.

(Als Autor des „Romans Muff, Teig, Provinz“ aus dem Jahre 1987 darf ich darauf hinweisen, dass ich diesen Schachzug ohne Jury bereits damals am eigenen Werk angewendet habe. Der Roman ist in leichter Schräglage, vulgo kursiv, gesetzt, sodass Lesende den Kopf ein wenig abdrehen müssen und zur Ermüdung gezwungen sind, ehe ihnen ein scharfer Blick auf die Tiroler Geschichte gelingt.)

Denkmäler gelten von der Statik her gesehen meist als die Spitze eines kulturellen Eisbergs. Wir sehen nur ganz wenig von dem, was sich Myzel-artig rund ums Denkmal abspielt.

So muss wegen der Schräg- und Rechtslage der Sockel verstärkt werden, weil sich ja der Schwerpunkt das Ganzen verändert.

Zu diesem Zweck wird in die Tiefe gegraben, wo aber das Wurzelwerk einer naturgeschützten Platane im Weg steht.

Jetzt kommt es zum Beamtentarock: Sticht das Kulturdenkmal das Naturdenkmal oder überhaupt die Geschichte die Gegenwart?

Es wird noch allerhand Jurysitzungen brauchen, bis die Schräglage vollzogen werden kann.

Das ist eben Wien, wo viel tarockiert, diskutiert und räsoniert wird.

In Innsbruck wäre das schon längst erledigt. Als wir seinerzeit ein Kunstwerk gegen die Gewalt im Walther-Park stehen hatten, wurde dieses flugs in den Inn geschmissen, wo es in Schräglage zu liegen kam.

Aus dem Gemeinderat sagte jemand, es sei eh nichts passiert, denn das Kunstwerk sei ja nicht einmal richtig nass geworden, so behutsam habe man es an den Rand des Flusses geschmissen. Es gilt die Unschuldsvermutung.

TT, 27.11.2019: „Unbekannte warfen ein Kunstwerk des Künstlers C. M. in den Inn und erhielten dafür Applaus von GR G. D..“ 


STICHPUNKT 24|30, geschrieben am 10/04/24

Geboren 1953. Ist seit Gerichtsverfahren 1987 gerichtlich anerkannter Schriftsteller, bis 2018 als Bibliothekar an der ULB Tirol. Als Konzept-Schriftsteller hält er sich an die These: Ein guter Autor kennt jeden Leser persönlich.

Etwa 50 Bücher, u.a.:
* BIP | Buch in Pension | Fünf Bände (2020-2024)
* Anmache. Abmache. Geschehnisse aus dem Öffi-Milieu. (2023)
* Austrian Beat 2. [Hg. Schneitter, Schönauer, Pointl] (2023)
* Verhunzungen und Warnungen. | Geschichten, entblätterte Geschichten, verwurstete Geschichten. (2022)
* Outlet | Shortstorys zum Überleben (2021)
* Antriebsloser Frachter vor Norwegen | Austrian Beat (2021)
* Tagebuch eines Bibliothekars | Sechs Bände (2016-2019)

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