Foto von Noah Negishi auf Unsplash
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Heilige Weisheit

Die Worte des Mannes mit den Schläuchen
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Auf das Café vor der Spitalsmauer schien warm und gleißend die Wintersonne.  Um Stehtische im kleinen Vorgarten standen plaudernd einige Raucher bei einem nachmittäglichen Bier. Einer der Gäste trug einen Rucksack, aus dem zwei Wellschläuche quollen, die in seinen Schulterblättern verschwanden.  An seiner rechten Hüfte baumelte eine Tasche mit ebenfalls einem Schlauch, der in seiner rechten Körperseite verschwand. Ein Zuhörer an einem Nebentisch vernahm,  wie der so Bepackte, mit einem Zug an seiner Zigarette und nach einem Schluck aus dem Bierglas, seinen Tischnachbarn erklärte, dass er für seinen Versuch ja über 100 000 Euros im Voraus erhalten hätte, und dass es allein seine Entscheidung gewesen sei, sich eine Exolunge und eine Exoleber verpassen zu lassen, seine eigenen Organe wären nur abgeklemmt worden und könnten sozusagen jederzeit wieder  aufgedreht werden.  Die Ärzte hätten ihm aufgetragen, so zu leben wie immer, rauchen, trinken und essen wie er wolle. „Aber was soll der Versuch?“ fragte der Langhaarige, der mit dem Rücken zur Sonne stand. „Ich bin Teil eines weltweiten Versuchsprogrammes, das Elon Musk für seine außerkörperlichen Organe auf den Weg gebracht hat“.  Derweil würde ein Zuhörer an einem Nebentisch seinen Ohren nicht trauen, sich an der Schläfe kratzen und mit dem Löffel im Kaffee rühren.

Die Sonne war sehr heiß für die Jahreszeit und ließ schon die ersten Vögel fröhlich verspielt um Partner zwitschern. „Ich habe vor einem Monat in der Zeitung davon erfahren, dass sie Raucher und Trinker suchen, die sich ein steuerfreies Einkommen verschaffen wollen und ohne familiäre Bindungen sind. Ihr wisst ja, dass ich schon sechs Monate solo bin, seit mich Radka wegen dem Trottel mit dem BMW verlassen hat, nur weil ich zweimal mit einer Zigarette ihrer Haut zu nahe gekommen bin, obwohl man die Narben kaum sehen konnte.  Jetzt kann mir niemand dreinreden, ich bin sogar versichert, falls etwas schiefgehen sollte, Krankenhaus- oder Begräbniskosten, alles ist sehr gut abgedeckt.“ Wie lange der Versuch gehen sollte, fragte der dritte am Tisch, während der Zuhörer wahrscheinlich gerade einen zweiten  Cappuccino bestellte. Hinter der Mauer am Spitalsareal dröhnte laut  der Motor eines Caterpillars und tosend klatschte ein Haufen Erde auf die metallene Ladefläche eines Lastwagens. „Wofür braucht denn das der Musk?“, hätte das Ohr eines  Zuhörers vernommen. „Für seine Marsmission, haben mir die Ärzte gesagt“, würde umgehend als Antwort zu vernehmen gewesen sein.

Die Worte des Mannes mit den Schläuchen schienen in der warmen Winterluft zu schweben wie Zigarettenrauch, der sich nicht auflösen wollte. Und es entging fraglos keinem der Anwesenden, wie der Langhaarige seinen Kopf schüttelte, als könnte er durch diese Bewegung das Gehörte wieder aus seinen Ohren heraus schütteln. „Der Mars“, wiederholte der Mann mit den Schläuchen und zog  an seiner Zigarette. Der blaue Rauch kräuselte sich vor seinem Gesicht, während seine künstliche Lunge schon das Gift filterte. „Musk will Menschen dort oben ansiedeln, aber die Strahlung ist zu stark für normale Organe. Diese hier“, er klopfte auf die Tasche an seiner Hüfte, „sind mit einer speziellen Legierung ausgekleidet. Wenn sie funktionieren, werden sie für den Mars weiterentwickelt.“

Der Caterpillar hinter der Mauer heulte erneut auf, als würde er gegen diese Worte protestieren. Ein Zuhörer würde bemerken, dass seine eigene  Hand zitterte, die gerade den frisch gebrachten Cappuccino zum Mund führte. Die Schaumkrone war zu einem perfekten Herz geformt – seltsame menschliche Geste in diesem Moment einer unglaublichen Enthüllung. „Und was ist mit den Nebenwirkungen?“, fragte der Dritte am Tisch, ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht und Händen, die von jahrelanger Arbeit im Freien kündeten. Seine Stimme klang rau, er hatte bestimmt  schon sehr viele Zigaretten in seinem Leben geraucht. Der Mann mit den Schläuchen lachte, ein metallisches Geräusch, das den Zuhörer an das Klirren von Operationsbesteck erinnerte. „Nebenwirkungen? Die einzige Nebenwirkung ist, dass ich nachts manchmal ein leises Summen höre, wie von einem weit entfernten Elektromotor. Aber dafür gewöhnt man sich schnell genug Witze an – wisst ihr, was der Unterschied zwischen mir und einem Tesla ist? Ich kann selber zur Steckdose gehen!“ Die anderen lachten nicht. Der Langhaarige starrte auf die Schläuche, die aus dem Rucksack ragten, als würde er dort eine geschlauchte Wahrheit suchen. Ein Vogel landete auf einem Tisch nahe der Mauer, pickte an einem übriggelassenen Brotkrümel und flog davon, unbeeindruckt von den menschlichen Begebenheiten, die sich neben ihm abspielten. „In sechs Monaten“, fuhr der Mann fort und drückte seine Zigarette aus, „werden sie die Daten auswerten. Wenn alles gut läuft, werden sie anfangen, die Organe in Serie zu produzieren. Stellt euch vor: eine ganze Kolonie von Menschen wie ich, die ersten echten Marsmenschen.“ Er lächelte, aber ein aufmerksamer Zuseher würde bemerkt haben, dass das Lächeln seine Augen nicht erreichen konnte.

Die Wintersonne begann langsam zu sinken, warf lange Schatten über den Vorgarten des Cafés. Der Zuhörer beobachtete, wie sich die Schatten der Schläuche auf dem Pflaster bewegten, schwarzen  Schlangen gleich, die sich nach ihrer Beute streckten; und fragte sich vielleicht, ob der Mann mit den künstlichen Organen nachts von roten Wüsten träumte, von einem Himmel ohne Blau, von einer Zukunft, in der der Mensch nicht mehr ganz Mensch war. Der Caterpillar verstummte, und in der plötzlichen Stille hörte man nur noch das leise Summen, das vielleicht von den künstlichen Organen kam, oder vielleicht auch nur vom Wind, der durch die kahlen Äste der Winterbäume strich.

„Ihr hättet die Gesichter der Krankenschwestern heute Morgen sehen sollen“, sagte der Mann mit den Schläuchen und zündete sich eine neue Zigarette an. Seine Finger zeigten mehrere frische Einstichstellen, die im schwindenden Sonnenlicht wie dunkle Sterne auf seiner Haut schimmerten. „Die Neue hat fast ihre Pipette fallen lassen, als sie meine Blutwerte gesehen hat – alles perfekt, besser als bei einem Marathonläufer.“ Er zog seinen Ärmel hoch und entblößte eine Reihe kleiner, quadratischer Pflaster, die wie ein groteskes Schachbrett auf seinem Unterarm angeordnet waren. „Alle vier Stunden eine neue Gewebeprobe. Sie schneiden winzige Stückchen heraus, markieren sie mit fluoreszierenden Farbstoffen und schauen, wie meine Zellen mit dem künstlichen Gewebe interagieren. Ich schaue schon aus wie ein verdammter Schweizer Käse.“

Der Langhaarige beugte sich vor, seine Augen fixiert auf die Pflaster. „Tut das nicht höllisch weh?“ „Ach was“, der Mann winkte ab, aber  schon bemerkte der Zuhörer das kurze Zucken in seinem Gesicht. „Das Schlimmste sind die Depotspritzen für meine stillgelegten Organe. Dreimal wöchentlich, direkt in die Lebergegend. Das Zeug brennt wie Feuer, und der Doktor meint, das sei gut so – bedeutet, dass die natürliche Leber und die natürliche  Lunge nicht verkümmern.“ Er rieb sich unbewusst die rechte Seite. „Heute haben sie zum ersten Mal auch DNA-Proben genommen. Wollen wissen, ob die künstlichen Organe irgendwas in meinem Erbgut verändern. Der Oberarzt – ein kleiner Glatzkopf mit einer Brille, die aussieht wie ein Teleskop – wurde ganz aufgeregt, als er von irgendwelchen ‚epigenetischen Modifikationen‘ sprach.“ Er nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. „Was weiß ich, was das bedeutet.“ Wie er weiter erzählte, zog sich dem Zuhörer am Nebentisch der Magen zusammen, seinen längst kaltgewordenen Cappuccino vergessend. Der Langhaarige schüttelte, gefangen von der surrealen Erzählung, ungläubig den Kopf.

„Ihr hättet den Kerl sehen sollen“, sagte der Mann mit den Schläuchen und trat einen Schritt zurück, während sein Blick in die Ferne schweifte, als sähe er die Szene noch einmal vor sich. „Da saß einer im Warteraum, mit diesem gläsernen Kasten an seinem Bauch, wie ein Aquarium für ungeborenes Leben. Die Morgensonne fiel durch die hohen Fenster und brach sich in den Kanten des Behälters, warf prismatische Muster auf die cremefarbenen Fliesen.“

‚Schwangerschaft ist eine überholte Konzeption‘, sagte der Mann mit dem Glaskasten am Bauch zu seinem Nachbarn im Wartezimmer, als spräche er über das Wetter. ‚Warum sollten nur Frauen diese Last tragen? Musk hat verstanden, dass wir für den Mars neue Wege der Fortpflanzung brauchen.‘ Der Mann mit den Schläuchen ahmte die selbstgefällige Stimme des Kastenträgers nach, während seine eigenen Schläuche im Rhythmus seiner Bewegungen schwangen.

Eine Krähe landete auf der hohen Steinmauer, das schwarzes Gefieder ein scharfer Kontrast zum winterlichen Licht. Ihr Krächzen vermischte sich mit dem fernen Echo eines menschlichen Schreies  hinter der Mauer aus dem Krankenhaus, eine makabre Untermalung der Gegenwart.

„Der Warteraum selbst“, fuhr er fort, seine Stimme nun leiser, als teilte er ein Geheimnis, „ist wie aus einer anderen Zeit. Die weißen Möbel scheinen in diesen hohen Räumen zu schweben, zwischen vergitterten Fenstern und alten Türen mit milchigen Glasfüllungen. Man kann hier Geschichte in den Wänden spüren, unter den glasierten Bordüren der Fliesen, hinter den massiven Gussradiatoren. Manchmal, wenn die Sonne richtig steht, werfen die Gitter Schatten wie in Gefängniszellen auf den Boden.“

Er zündete sich eine neue Zigarette an, seine Hand zitterte leicht. „Die Schwestern erzählen, dass hier früher…“ Er stockte, blickte sich um, als könnte jemand lauschen. „Nun, ihr wisst schon. Die Euthanasie. Manchmal, wenn ich dort sitze und warte, zwischen dem Geruch von Desinfektionsmitteln und dem Klappern der Servierwagen, frage ich mich, ob die Wände sich erinnern.“ Der wettergegerbte Mann starrte in sein Bierglas, als suche er dort etwas. „Aber die Rehe…“, begann er zögernd.

„Ja, die Rehe“, der Mann mit den Schläuchen lächelte bitter. „Sie kommen manchmal bis an die Fenster der verglasten Veranda. Letzte Woche stand eine ganze Familie dort, äste friedlich zwischen den Föhren. Vor zwei Wochen sogar Wildschweine… Als würde die Natur sich zurückholen, was ihr genommen wurde. Ein paradiesischer Anblick, wenn man vergisst, was hier geschah.“

Der Zuhörer beobachtete, wie sich die Wintersonne in der vergoldeten Kuppel der Kirche am Horizont spiegelte. Die überlebensgroßen Engel schienen über dem Nebelmeer zu schweben, das sich wie ein Leichentuch über das Tal gelegt hatte. Ihre steinernen Augen blickten blind auf diese neue Menschheit herab, während unter ihnen, in den weißen Korridoren des Krankenhauses, die Zukunft in gläsernen Kästen und künstlichen Organen heranwuchs.

„Die heilige Weisheit“, murmelte der Mann mit den Schläuchen, gedankenverloren dem Blick des Zuhörers folgend. „Aber was ist Weisheit in einer Zeit, in der wir unsere eigenen Körper zu Versuchslaboren machen? Wenn selbst die Geburt eines Kindes zu einem technischen Vorgang wird?“
Ein Krankenwagen tönte in der Ferne, sein Sirenengeheul vermischte sich mit dem metallischen Klang der Baumaschinen hinter der Spitalsmauer. Der Mann griff in seine Jackentasche und zog einen durchsichtigen Plastikbeutel hervor, gefüllt mit verschiedenfarbigen Pillen.

„Und das hier muss ich jetzt jeden Tag schlucken. Die blauen sind für die Immunsuppression – damit mein Körper die künstlichen Teile nicht abstößt. Die roten sind Vitamine, die gelben für die Nervenenden an den Verbindungsstellen, und diese weißen hier…“ Er hielt eine besonders große Kapsel hoch, „die sind das Interessanteste. Experimental, streng geheim. Sollen dafür sorgen, dass meine Zellen lernen, mit dem Plastik umzugehen.“ Der wettergegerbte Mann pfiff leise durch die Zähne. „Und das alles nur für Geld?“ Der Proband schwieg einen Moment, sein Blick verlor sich in der untergehenden Sonne. „Nicht nur das“, sagte er schließlich leise. „Manchmal nachts, wenn ich das Summen der Pumpen höre, denke ich daran, dass ich vielleicht Teil von etwas viel Größerem bin. Vielleicht bin ich der Erste einer neuen Art von Menschen. Obwohl…“ Er lachte bitter. „Die Ärzte sagen, ich soll solche Gedanken nicht zu ernst nehmen, das liege an der neuen Medikamentenmischung, die manchmal philosophische Nebenwirkungen hat.“ Dem Zuseher am Nebentisch würde im letzten Tageslicht nicht entgangen sein, wie die Schatten der Schläuche immer lebendiger wurden, während zu Beginn dieser Neumondnacht oben schon der erste Stern am Winterhimmel zu funkeln begann. Ein weiterer Schrei durchschnitt die Luft, gefolgt vom aufgeregten Flügelschlagen der Krähen. Die Sonne war hinter den bewaldeten Hügeln versunken, und die Schatten der Föhren streckten sich wie dunkle Finger über die Steinmauer.

--- ein Schnappschuß

In die Mitte der 50iger Jahr geboren in Solbad Hall,
nach der Geburt verwechselt.
Humanisiert und romantisch verseucht von Kennedyanern an der Sill und vom Föhn.
Durch die Galerie St. Barbara kultiviert. Ab Mitte 70iger Jahre erste Lesungen zwischen mittelalterlichen Mauern und neuer Autobahn. Galerie „Erdbeben“
Buchhändler im In- und Ausland. „Der Brenner“ kennengelernt.
Inneneinrichter im Aus- und Inland.
Schule für Dichtung bei Ide Hintze und Anne Tardos.
Schwimm- und Schilehrer.
Erste Übersetzungsversuche 1980 in England für Linton Kwesi Johnson, von seinem Verleger vereitelt
Seit 1990 literarische Beiträge für diverse Druckmittel in und um Wien (Stuhlprobe, Dazwischen, Morgenstean, Etcetera, Dum) sowie graphische Beiträge für poetische Londoner Veröffentlichungen.
2001 Welturaufführung „Knoblauch & Weihrauch“ (eine Liturgie des Geldes) in Mödling,
Lesungen bei und mit „Labyrinth“, „Klopfzeichen“, im Literaturhaus Wien, in Prag und St. Pölten und andernorts..
Seit über 30 Jahren lebhaft in Wien ---

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