Es ist eine für mich nicht ganz alltägliche Situation. Die Wohnung von Peter Waldner ist voll von Noten, Büchern, CDs und ähnlichem. Dennoch findet er einen Platz, an dem wir zuerst kurz plaudern und dann zum Interview übergehen. Der Cembalist, Organist und Alte-Musik-Experte beantwortet geduldig und eloquent meine Fragen. Und tritt im Gespräch die Beweisführung an, dass „Alte Musik“ eben nicht „alt“ ist, sondern direkt mit uns, unserer Zeit und unserem Seelenleben zu tun hat.
Kannst Du mir bitte kurz die Grundintention Deiner CD-Reihe „Tastenfreuden“ skizzieren?
Begonnen hat das Ganze für mich an einem Punkt der Unzufriedenheit. Vor der Gründung meiner eigenen CD-Reihe habe ich ja bei verschiedensten Labels publiziert: Einige CDs sind zum Beispiel beim ORF-Tirol und beim ORF-Vorarlberg, aber auch bei den Wiener Labels „ORF-Edition Alte Musik“ und „Extraplatte“ erschienen. Im Laufe der Zeit sind dabei insgesamt sehr schöne Produktionen herausgekommen.
Immer wieder gab es aber auch total blockierte Situationen, in denen mir plötzlich schlagartig bewusst wurde, als Musiker den Institutionen, bei denen ich publizierte, mit Haut und Haaren ausgeliefert zu sein. Mit meiner ganzen Energie und mit vollem Einsatz habe ich CD-Projekte realisiert und auch finanziert, die dann aber manchmal jahrelang bei den Labels liegen geblieben oder nie erschienen sind. Einmal war es zum Beispiel so, dass ich nach Jahren vergeblichen Wartens das gesamte noch völlig unbearbeitete Aufnahme-Material auslösen musste, damit es überhaupt erscheinen und ich es wenigstens selbst publizieren konnte.
Außerdem hatte ich als Musiker einige dieser CDs bis zu ihrer Fertigstellung selbst zu finanzieren. Falls die CD dann ein Verkaufserfolg wurde, verdiente in erster Linie das Label, das ja keinerlei Risiko eingegangen war, daran. So sieht es im Alltag eines Berufsmusikers halt einfach sehr oft aus. Ähnlich wie bei Autoren und Schriftstellern läuft da einiges überhaupt nicht fair ab.
Die Frage, die sich mir stellte, war dann: Mache ich so weiter, oder beschreite ich neue Wege? Als voll professioneller Musiker, der jetzt immerhin schon seit fast 30 Jahren ausschließlich im Bereich der Alten Musik und der historischen Tasteninstrumente tätig ist, wollte ich meiner künstlerischen Arbeit eine angemessene Form geben und ihr eine ansprechende Gestalt verleihen. Es ist mir wichtig, meine künstlerische Arbeit immer wieder zu dokumentieren, auch in exemplarischen CD-Produktionen.
Öfters dachte ich mir: Entweder habe ich ein Label, das mich dabei unterstützt und mir einen gewissen Spiel- und Freiraum zugesteht, um derartige Projekte zu realisieren, oder ich habe es eben nicht! Da ich dieses Label letztlich nicht fand, entschloss ich mich kurzerhand dazu, sehr pragmatisch selbst zu realisieren, was ich nicht gefunden hatte, und meine eigene CD-Reihe ins Leben zu rufen. Die Geburtsstunde der „Tastenfreuden“ hatte damit geschlagen. Nicht zuletzt ging es mir dabei auch um die Gestaltung der CD-Covers und CD-Booklets. Viele Labels pressen die Musiker, die bei ihnen publizieren, in Schablonen: Alles ist vorgegeben, persönlicher Spielraum ein absolutes Fremdwort. Das entspricht nicht meinen Vorstellungen.
Wie siehst Du das: Gibt es im ästhetischen und musikalischen Bereich einen klanglichen Mainstream, gegen den Du Dich mit Deiner CD-Reihe stellst?
Die historischen Tasteninstrumente, auf welche meine CD-Reihe „Tastenfreuden“ ja ausschließlich fokussiert ist, sind mit dem modernen Instrumentarium nicht eins zu eins vergleichbar: Im Umgang mit ihnen braucht es wohl noch mehr Sensibilität. Nehmen wir als Beispiel das Cembalo, das ja ausschließlich aus Naturmaterialien gebaut ist: Da gibt es keinen Stahlrahmen, keine tonnenschwere Spannung, kein riesiges Volumen auf den Saiten. In gewisser Weise ist alles viel subtiler und fragiler.
Es ist mir sehr wichtig, gute, bestens ausgebildete Tontechniker zu finden, die sich interessiert und gerne auf das jeweilige Instrument und den jeweiligen Raum einlassen, mit mir zusammen optimale Mikrophonierungen und vieles mehr ausprobieren, und dazu bereit sind, auf meine persönlichen, individuellen Bedürfnisse auch wirklich einzugehen. Ich wollte keinem wie auch immer gearteten Betrieb und der meist zwangsläufig damit verbundenen Betriebsamkeit mehr ausgeliefert sein, sondern in einem anregenden Diskurs auf einer guten menschlichen Basis zusammenarbeiten.
Dabei geht es mir – wie gesagt – auch um eine möglichst ansprechende, kreative Gestaltung der CD-Booklets und CD-Covers. Ich möchte den CD-Projekten, die ich realisiere, einen passenden, adäquaten Rahmen geben: Alles soll in eine angemessene Form gebracht werden, die meiner künstlerischen Intention entspricht. So möchte ich den Musikliebhabern meine CDs anbieten. Die Motivation für meine CD-Veröffentlichungen hat in erster Linie mit dem jeweiligen Projekt und mit der Musik selbst, nicht mit ausschließlich kommerziellen Überlegungen und Aspekten zu tun.
Im sogenannten Mainstream ist man als Musiker ja geradezu dazu gezwungen, alle möglichen Kompromisse zu machen. Das kommt sehr oft in einer Bevormundung, die bis hin zur Repertoire-Auswahl reicht, zum Ausdruck. Ich persönlich finde auch kleinere Verkaufskreisläufe wichtig. Die Grundsatzfrage ist einfach: Will ich bei einem großen Label herauskommen, oder möchte ich etwas ganz Eigenes, Eigenständiges machen?
Das heißt, es geht Dir darum, die Musik, so wie Du sie verstehst, zu präsentieren? Du hast eine klare Vorstellung und Idee: Genau so muss die Musik klingen!
Mir geht es nicht um mein Ego, sondern um viel größere und tiefere Zusammenhänge. Mittlerweile sind in meiner Reihe „Tastenfreuden“ sieben CDs erschienen. Bei meiner Schubert-Doppel-CD zum Beispiel war die Situation folgendermassen: Ein Jahr lang hatte ich die Möglichkeit, im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum – Musikkustos Franz Gratl war da sehr großzügig – zwei Kopien von Hammerflügeln der Schubert-Zeit aus der Meisterwerkstätte von Robert Brown zur Verfügung zu haben und zu bespielen. Robert Brown hat dieses zeitaufwändige CD-Projekt freundschaftlich und großzügig unterstützt: Wenn er alle anfallenden Mieten voll verrechnet hätte, wäre es für mich unbezahlbar und so nicht realisierbar gewesen.
Da waren also diese beiden wunderbaren, ausgesprochen klangschönen Hammerflügel, mit denen ich mich nach und nach vertraut machte und auf denen ich späte Klavierwerke von Franz Schubert aufnehmen wollte, was eine monatelange intensive Beschäftigung mit diesen Flügeln erforderte. Ein Jahr lang galt es, Tag für Tag stundenlang dieses sowohl technisch als auch musikalisch äußerst anspruchsvolle Repertoire sehr diszipliniert zu erarbeiten. Fast jeden Tag war ich zum Üben im Ferdinandeum. So hat dieses Projekt – nach und nach – Form angenommen.
Bei meinen CD-Produktionen es geht mir vor allem um das richtige Instrumentarium für die Musik und um akustisch und stilistisch passende Räumlichkeiten, nicht um die Vermarktung meiner Person. Es geht mir darum, optimale Bedingungen für ein Projekt zu schaffen, damit alles möglichst authentisch wird. Ein Label zu finden, das für all diese Dinge sensibel ist, wäre optimal, war aber – wie bereits erwähnt – für mich ein Ding der Unmöglichkeit.
Für meine CD-Produktionen habe ich jetzt endlich den ungezwungenen und kreativen persönlichen Spielraum, den ich dafür – bis hinein in die Programmauswahl – benötige. Große Labels wollen von ihren Interpreten sehr oft immer wieder dieselben bekannten Werke, ein ganz bestimmtes Repertoire, meist aus rein kommerziellen, verkaufsstrategischen Gründen; vielfach fehlt es an Mut, wirklich Neues zu entdecken.
Es geht Dir also darum, auch in Sachen Stückauswahl gegen den „Mainstream“ zu agieren?
Ja, aber nicht nur. Im Fall von Schubert ist es ja so, dass die Stücke, die ich eingespielt habe, sehr bekannt sind. Dieses Repertoire ist schon oft gespielt worden, vor allem von berühmten Pianisten wie etwa Swjatoslaw Richter, der Schubert auf seine Weise interpretiert hat. Generell ist die Interpretation von Schuberts Klavierwerken bis heute sehr stark von der Auffassung, die sich im 19. Jahrhundert nach und nach herauskristallisierte, geprägt.
Es hat mich überrascht, dass kaum einer meiner Kollegen es bisher gewagt hat, diese – meiner Meinung nach – dem heutigen Wissensstand nicht mehr ganz angemessenen Traditionen in Frage zu stellen, und sich kaum jemand jemals gefragt hat, ob Schuberts Klavierwerke nicht auch ganz anders interpretiert werden können. Im Zuge der Vorbereitungen für die Einspielung meiner Schubert-Doppel-CD war es für mich zum Beispiel ganz selbstverständlich und sehr wichtig, mich gründlich in die Schubert-Biographie einzulesen und natürlich auch zeitgenössische Quellen zu befragen und zu studieren, so etwa Johann Philipp Kirnbergers „Die Kunst des reinen Satzes“. Diese bedeutende musiktheoretische Publikation von Johann Sebastian Bachs Schüler Kirnberger war damals – zur Zeit von Beethoven und Schubert – in Wien sehr in Gebrauch: Dieses Buch kannte man in Musikerkreisen.
Mich interessierte vor allem, was Kirnberger über historische Stimmungen schreibt. Die Flügel waren damals ja nicht in einer modernen gleichstufigen, sondern in einer noch ungleich-schwebenden historischen Stimmung gestimmt. Was hat Kirnberger über die Wahl des richtigen Tempos, über Charakterbezeichnungen usw. zu sagen? Durch diese intensive Beschäftigung bin ich zu teilweise ganz anderen, neuen Erkenntnissen und Ergebnissen gekommen, was Tempo, Ausdruck und Affekt der Stücke angeht. Ich habe mich natürlich auch gefragt, warum so wenige Kollegen den Mut haben, Schuberts Klaviermusik anders – transparenter, schlanker, entschlackter, beweglicher und tänzerischer – zu interpretieren, sondern fast alle immer alles gleich machen.
Da stellt sich die Frage: War diese Erkenntnis auch bei anderen Interpreten schon da, oder war die Angst, den klanglichen und ästhetischen Mainstream zu verlassen, einfach zu groß?
Die Frage zu beantworten ist nicht einfach. International bekannte Spezialisten am Hammerflügel haben für ihre Schubert-Einspielungen zum Teil viel zu späte Klaviere verwendet: Flügel, die für Schuberts Musik zum Beispiel schon 25 Jahre zu spät sind. Die damalige Entwicklung im Wiener Klavierbau war rasant, denn in Wien gab es weit über 150 Klavierbauer, die allesamt fieberhaft an der Weiterentwicklung des Hammerflügels arbeiteten. Dadurch änderte sich im Klavierbau in wenigen Jahren enorm viel.
Viele Interpreten benutzen Flügel, die bereits zu schwer sind. Es kann sein, dass sie zudem von bestimmten Auffassungen großer Pianisten beeinflusst sind. Vielleicht haben ihnen aber auch Labels und Firmen nahe gelegt, dass alles so sein muss, wie man es gewohnt ist und wie es immer war. Es gibt wenige, die diese Tradition durchbrechen und zu eigenen Interpretationen und Erkenntnissen kommen und stehen.
Für mich hat Schubert viel mehr mit Bach, Haydn und Mozart als mit den Romantikern Brahms und Schumann zu tun. Von der Alten Musik her kommend, habe ich da einen völlig anderen Blick auf dieses Repertoire. Ich denke außerdem, dass im 19. Jahrhundert und darüber hinaus das pianistische Standardrepertoire, also Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert usw., oft zu mechanistisch gespielt wurde. Dadurch ist eine gewisse natürliche Beseelung im Spiel verloren gegangen. Das hat auch sehr viel mit der Tempo-Wahl zu tun: Oft wurden viel zu schnelle oder viel zu langsame Tempi gewählt, oft war der Zugriff zu aggressiv.
Aus der barocken Epoche weiß man, dass die Bezeichnungen am Beginn der Stücke keine Tempo-, sondern Charakter- und Affektangaben sind. Das Tempo wird ausschließlich durch den Takt bestimmt und festgelegt. Der Takt zeigt also das Tempo an, die Bezeichnung aber den Charakter eines Stücks. Wenn ich also zum Beispiel „molto moderato“ als Charakter- und nicht als Tempoangabe lese, komme ich in der Interpretation des Stücks zu einem völlig anderen Ergebnis!
Es geht also um die richtige Lesart der Quellen und Partituren. Ich denke, dass das vielen Interpreten und Musikern nicht bewusst ist. Von der historischen Aufführungspraxis her ist dieses Repertoire neu zu lesen. Ich fühle mich nicht verpflichtet, mich an eine nicht mehr zeitgemäße Pianisten-Schule zu halten, die den bürgerlichen Konzert-Kanon mit geprägt hat. Es geht mir darum, auch sehr bekanntes Repertoire völlig neu zu lesen und so zu authentischen, eigenständigen und lebendigen Interpretationen zu kommen. Dabei geht es mir nicht um mich als Person. Ich möchte mich aber auch nicht sklavisch nur an die Quellen halten. Ziel ist ein höchst vitales, lebendiges, unmittelbares, inspiriertes und inspirierendes Musizieren.
Wenn wir von „Lesen“ sprechen, dann ist es ja auch Deine Leseweise. Du wirst nicht objektiv zur Musik vordringen können, oder?
Diesen Anspruch erhebe ich gar nicht; denn was ist schon objektiv? Das Wichtigste für den Musiker ist die Partitur und das Bestreben, sie und die darin ausgedrückte Intention des Komponisten ernst zu nehmen und möglichst exakt zu interpretieren. Schubert notiert unglaublich präzise, auch was die Dynamik anbelangt. Der Musiker hat die Partitur authentisch und verantwortlich in lebendigen Klang umzusetzen. Dabei helfen ihm natürlich das Lesen der Quellen und die Kenntnis unterschiedlichster Zusammenhänge und Hintergründe. Aber natürlich spielt auch meine Musikerpersönlichkeit als der Filter, durch den ja letztlich alles läuft, eine wichtige Rolle.
Du willst als Interpret die Musik also möglichst vital und gegenwärtig gestalten?
Ja, ich stelle mich natürlich auch mit meiner Persönlichkeit und meiner individuellen, unverwechselbaren Art zu spielen dem jeweiligen Projekt zur Verfügung und so in den Dienst der Sache. Selbstverständlich klingen auch meine persönliche Musikalität und meine musikalische Auffassung durch. Eine Interpretation, die sich an alle bekannten Vorschriften und Anweisungen hält, ist noch lange keine gute und vor allem keine lebendige Interpretation. Fantasieloses Kopieren ist eindeutig zu wenig und genügt nicht.
Die Musik ist vor allem „nach innen“ zu nehmen. Vielleicht passt hier das Bild der Schwangerschaft: Monatelang mit einem Projekt – wie eine Frau mit einem noch ungeborenen Kind – schwanger zu sein und zu gehen, um es dann nach entsprechender Reifung und Entwicklung in die Welt hinein zu gebären. Das ist ein Prozess, das dauert und geht nicht so schnell. Wenn einem Musiker der persönliche, kreative Zugriff fehlt, dann kann seine Interpretation schnell steril und letztlich unfruchtbar werden.
Musik ist die Sprache, die unsere Seele am besten versteht
Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.