Kann man sagen, dass der Interpret das Stück erst wieder zum Leben bringt?
Ja. Das Sinnliche, das Fingerspitzengefühl in der Interpretation darf nicht fehlen. Ein Komponist bringt ja seine Ideen in eine Form: Er notiert sie als Partitur. Damit sind seine Ideen gewissermassen „tiefgefroren“. Die Aufgabe des Interpreten ist es, diese dann wieder aufzutauen und die Partitur nachschöpferisch zu lesen und aufmerksam zu studieren, vielleicht auch völlig neu zu lesen. Jedenfalls ist es seine Aufgabe, diese Ideen wieder zu neuem pulsierendem Leben zu erwecken: Es geht um eine Art „Recreation“, um eine regelrechte Wieder-Erschaffung und einen schöpferisch-kreativen Prozess. Vitalität und Sinnlichkeit sind dabei enorm wichtig.
Für mich spielt in der Interpretation auch eine gewisse Körperhaftigkeit eine sehr zentrale Rolle: Musik hat ja schließlich viel mit Tanz und Körperbewegung zu tun, vor allem aber auch mit Seelenbewegung. Durch eine rein intellektuelle Herangehensweise lässt sich das nicht erreichen.
Das größte Hindernis auf dem Weg zurück zu den Quellen sind für mich die musikalischen Konditionierungen und ästhetischen Ansprüche des 19. Jahrhunderts, das ein sehr materialistisch geprägtes Zeitalter war. Barockmusik ist aus meiner Sicht viel universaler, spiritueller, natürlicher, naturnäher und organischer.
Denken wir an Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen. Den Auftrag zu diesem bedeutenden Werk bekam er von Graf Hermann Carl von Keyserling, der für seine schaflosen Nächte eine anspruchsvolle musikalisch-geistige Erbauung suchte: Die Musik erklang – gespielt von seinem Kammer-Cembalisten Johann Gottlieb Goldberg – in einsamen, schaflosen Nächten für ihn ganz alleine und rührte ihn zu Tränen. Adressat der Goldberg-Variationen war also eine einzige Person, nicht etwa – so wie heute – ein in riesigen Konzertsälen sitzendes Publikum. Barockmusik soll die menschlichen Affekte nachhaltig affizieren, die Emotionen in Bewegung bringen, etwas im Menschen anregen und berühren. Heute stellt sich da natürlich schon auch die Frage der angemessenen Vermittlung dieses Repertoires und der damit verbundenen Intimität.
Was mich zu Deiner Konzertreihe „Innsbrucker Abendmusik“ bringt!
Wir haben ja hier in Innsbruck sehr schöne Räumlichkeiten, sowohl barocke Kirchen als auch Säle, für unsere Konzerte zur Verfügung. Bei meinen Programmierungen geht es mir immer darum, den richtigen Raum für die richtige Musik auszuwählen. Dabei spielt auch die richtige Raumgröße eine wichtige Rolle. Die barocke Pfarrkirche von Mariahilf, die in den Jahren 1648 bis 1652 erbaut wurde, ist zum Beispiel für klein besetzte frühbarocke Sakralmusik ideal geeignet: Diese Musik dort aufzuführen, macht am meisten Sinn.
Musik ist für mich eine Art von Kommunikation. Daher ist auch der Begriff „Alte Musik“ eher unglücklich, denn dieses faszinierende Repertoire hat mit Altem, Altmodischem oder Überaltertem überhaupt nichts zu tun. Seine Inhalte sind nicht alt, sondern zeitlos gültig.
Textgrundlage für die weltliche Musik dieser Epoche waren die zahlreichen Geschichten der griechischen Mythologie, in denen seelische und menschliche Urerfahrungen zum Ausdruck kommen und für uns heutige Menschen – in Form eines enorm kostbaren Erfahrungsschatzes – gewissermaßen vorerzählt sind: Hier geht es um archetypische Inhalte. In einer lebendigen Aufführung müssen diese Stoffe wieder greifbar gemacht werden und den Zuhörern regelrecht unter die Haut gehen. Textgrundlage für die geistliche Musik hingegen war die Bibel, das Buch der Bücher, ein Weisheitsbuch, das seine zeitlose Aktualität nie verlieren wird.
Meine Aufgabe als Musiker und künstlerischer Leiter ist es, diese Inhalte adäquat in unsere heutige Zeit zu übersetzen. Es geht nicht um eine blutleere Selbst-Inszenierung, bei der vorne auf der Bühne Akrobaten, die wie dressierte Zirkusaffen agieren, auftreten. Es geht darum, dass die Musik ihre ureigentlichste Aufgabe, nämlich die Aufgabe, die sie schon immer hatte, erfüllen kann: Die Affekte der Zuhörer zu erregen und nachhaltig zu bewegen. Das Modell dafür ist die antike Rhetorik, die „Ars rhetorica“, die Redekunst. Musik wird zur Klangrede, die ihre Zuhörer emotional bewegen soll. Das ist ein sehr modernes Kommunikationsmodell.
Bei unseren Konzerten spielt sich kein längst überholtes Ritual ab, bei dem das Publikum mehr oder weniger unbeteiligt im Raum sitzt. Erst wenn zwischen Musikern und Publikum wirkliche Kommunikation geschieht und der Funke überspringt, ist der Konzertabend aus meiner Sicht gelungen. Musik als Klangrede, die bei den Zuhörern sehr viel auslösen soll und kann, Musik als nie vorhersehbares, spannendes Resonanzphänomen zwischen Musikern und Publikum.
So ist das Publikum plötzlich unmittelbar angesprochen; mit dem sprichwörtlichen Elfenbeinturm hat das nicht im geringsten etwas zu tun. Immer wieder gibt es Momente, in denen die Zuhörer von der Musik emotional berührt, betroffen und aktiv in das Geschehen mit einbezogen sind: Sie werden gewissermaßen zur lebendigen Leinwand, auf die die Musik fällt. Unsere Konzerte sollen dem Publikum eine völlig andere Welt als unsere alltägliche erschließen.
Wir alle kennen das Normale, ganz Gewöhnliche, Alltägliche: Fast jeden Tag gehen wir in den Supermarkt. Bei unseren Konzerten aber geht es nicht um eine rein funktionale Ebene, Barockmusik kommt aus dem Leben und soll auch unmittelbar ins Leben greifen. Sie hat, wie ich schon sagte, sehr viel mit Tanz zu tun. Selbstverständlich tanzt unser Publikum während der Konzerte nicht; manchmal aber beobachte ich mit einer gewissen inneren Befriedigung, wie die ein oder andere Hand, der ein oder andere Fuß entspannt mit der Musik mitschwingt. Vielleicht tanzt dann ja auch die Seele mit. Im Konzert werden Menschen einfach lockerer. Seele und Körper sind sich sehr nahe, näher als Intellekt und Körper.
Früher, in der Barockzeit ist man bei Konzerten ja nur zum Teil gesessen. Man hat während der Musik gegessen, sich unterhalten und bewegt oder es sich in Logen gemütlich bequem gemacht. Musik war in erster Linie Gebrauchsmusik, fast immer auf eine konkrete Situation bezogen: Tanzmusik, Tafelmusik, Oper für das Theater, geistliche Musik für die Kirche, Trauermusik, Hochzeitsmusik. Es gab viel mehr Interaktion zwischen Musikern und Publikum. Das Konzertritual, bei dem sich das Publikum heute in einer ganz bestimmten Art und Weise kleidet, verhält und sich kaum bewegen darf, ist erst im 19. Jahrhundert entstanden.
Barockmusik hatte sehr viel Lebensbezug. Dieser ist dem heutigen Konzertbetrieb zum Teil leider völlig abhanden gekommen. Es ging immer mehr in die Richtung, Musik auf einer Bühne darzustellen und das Publikum nur mehr partiell am musikalischen Geschehen teilhaben zu lassen. Im Barock hatte Musik fast immer einen konkreten Anlass; sie war selten Kunst um der Kunst Willen. Barockmusik war und ist lebendig, sie hat mit unserem Leben zu tun. Im 19. Jahrhundert hat sich das nach und nach grundlegend geändert, nicht zuletzt durch den bürgerlichen Konzertbetrieb und das bürgerliche Publikum. Der unmittelbare Lebensbezug ging damit immer mehr verloren.
Immer wieder bekomme ich in Form von E-Mails sehr persönliche Rückmeldungen zu unseren Konzerten und unserer Konzertreihe. Manchmal sprechen mich Menschen auch persönlich an. Daran merke ich, dass sich bei unserem Publikum emotional einiges bewegt. Es ist schön, das zu erleben. Emotionen sind der eigentliche Stoff, aus dem die Musik gewoben ist. Ich möchte – auch mit meiner CD-Reihe – Menschen von heute mit Alter Musik ansprechen und berühren; denn Musik ist ja die Sprache der Seele.
Lieber Peter, danke für das Gespräch!
Musik ist die Sprache, die unsere Seele am besten versteht
Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.