Ich schätze den Elfenbeinturm. Verteidigte ihn, wann immer es notwendig ist. Für mich ist er kein Ort, der zu zerbrechlich ist, der nicht mehr in die heutige Zeit gehört oder gar für soziale Isolation und Weltfremdheit steht. Der „Elfenbeinturm“ ist ein Rückzugsort, an dem man zu Sinnen kommt, das Gehörte und Gesehene verarbeiten kann und dieses erst dann, mit der notwendigen Distanz, richtig analysieren, beurteilen und bewerten kann.
Der „Elfenbeinturm“ ist ein Ort der Klarheit, des Abstandes, der Feinheit und der Feingeistigkeit. Um diesen Ort lohnt es sich zu kämpfen, wenn möglich mit brachialen und ganz handfesten Mitteln. Es ist ein grober Kampf um das Feinen, Subtile und Feingeistige. Aber auch der Ort eines Konzertes selbst kann zum „Elfenbeinturm“ werden. Zu einem Ort der Abschottung vor zu großer Laustärke und vor grassierender Banalität.
Auch am Samstag und am Sonntag wurde es wieder deutlich und allzu deutlich, dass ich ein „Elfenbeinturmbewohner“ bin. Ich kämpfte mich am Samstag durch die grauenvolle Laustärke der „DJs“, die im Rahmen des „Tiroler Firmenlaufs“ ihre Musik zum Besten gaben. Wenn Musik schon keine Subtilität und keine Substanz hat, dann muss sie offenbar zumindest mit enormer Lautstärke auftrumpfen. Manchmal wurde diese schon akustische Umweltverschmutzung genannt, jedenfalls aber irritierte mich diese Musik.
Ich fand mich schwerer zurecht, lief Umwege und Irrwege – nicht nur, weil die Straße hin zur Hofkirche gesperrt war. Ich machte mir Sorgen, dass die Stimmen und die Feinheit der Interpretationen von Arvo Pärt, die ich von den Wiltener Sängerknaben ganz besonders schätze, von den lauten Beats von der Bühne überlagert und übertönt werden.
Diese hämmernden Beats würden ihren Weg wohl bis in die Hofkirche finden, die Entfernung war ja nur gering. Kann die laute, röhrende und störende Welt nicht einmal wenigstens an Abenden wie diesen leise sein und sich in nobler Zurückhaltung üben? Ich hatte an diesem Abend aber leider zu wenig Energie und Kraft um etwas dagegen zu unternehmen. Ich ziehe mich zurück. Zurück in die Hofkirche, die mir an diesem und am kommenden Abend zum „Elfenbeinturm“ wird.
Vor einiger Zeit hatte ich mich zum Interview mit Johannes Stecher getroffen, der die Leitung der Wiltener Sängerknaben innehat. Kurz zuvor war ich auf die grandiose Aufnahme mit Stücken von Arvo Pärt aufmerksam geworden. Genau das war auch der Grund, warum ich an diesem Abend meinen Weg in die Hofkirche fand.
In der Hofkirche: Die „Wiltener Sängerknaben“
Die Musik von Arvo Pärt ist spirituell, stark an liturgischen Kontexten geschult, sei es in der Form, sei es in der immensen emotionalen Tiefe. Provokant gesagt ist für mich die Musik von Arvo Pärt ein Gottesdienst, ohne die oftmalige Trivialität von eben diesen. Die Musik von Pärt ist konzise, intellektuell in der Struktur, aber emotional und berührend in ihrer Ausführung. Es ist „Rückzugsmusik“ um zu Sinnen zu kommen, seine Sinne zu schärfen.
Dass die Wiltener Sängerknaben an diesem Abend auch noch einige Volkslieder interpretiert haben blende ich hier aus. Damit ist aber nichts gegen die Qualität dieser Interpretationen gesagt. Denn diese war gut. Was aber an diesem Abend bei ihren Arvo Pärt Interpretationen geschah war außergewöhnlich. Beispiellos. Ich kämpfte mit den Tränen.
Warum funktioniert die Kombination von Arvo Pärt und den Wiltener Sängerknaben so gut? Was war hier passiert? Liegt es an der „weisen“ Musik von Pärt, der um die Abgründe und den Verfall der Welt weiß und Schönheit, Klarheit und Stringenz entgegen hält?
Steigert sich diese Intensität und dieses Gefühl der Schönheit bei gleichzeitigem Empfinden der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit noch um ein vielfaches, wenn diese „altersweise“ Musik von Knaben und jungen Männern interpretiert wird? Möglicherweise. Zumindest wäre es eine Erklärung für die emotionale Substanz dieser Interpretationen, die an diesem Abend enorm war.
Wer an einem solchen Abend mit dieser Musik beim Anblick des Altars und des leidenden Jesus Christus über dem Altar keine religiösen oder zumindest spirituellen Gefühle entwickelt, der hat den Kampf für das Subtile, Feine und Spirituelle schon längst aufgegeben oder aufgrund der eigenen Abstumpfung gar nie geführt. Bei Pärt wird der „Kampf“ deutlich, den nicht nur religiöse Menschen zu führen haben. Es ist der Kampf um das „Mehr“, um das was über das reine Streben nach Effizienz und Rationalität hinausgeht.
Das „Musikalische Gipfeltreffen“ in der Hofkirche
Kein Wunder also, dass ich mich auch am nächsten Tag, Sonntag, zum „Musikalischen Gipfeltreffen“, veranstaltet im Rahmen des „Musikmuseum“, abermals in die Hofkirche wagte. Zurück zu meinem an diesem Wochenende liebgewonnenen „Elfenbeinturm“. An diesem Tag stand ein „Musikalisches Gipfeltreffen 1503 – Höfische Rennaissancemusik aus der Zeit Kaiser Maximilians I“ auf dem Programm. Bei diesem herausragend Programm stellte sich auch eine weitere Funktion des „Elfenbeinturms“ heraus. Er hat die Aufgabe ähnlich der Heterotopie von Michel Foucault zu wirken und strukturiert zu sein. Der „Elfenbeintrum“ ist ein „anderer Ort“, der in einem konträren Verhältnis zum „Restraum“ steht.
Die heterotopische Funktion der Kunst, der Musik und der Vorstellungskraft vermochte es an diesem musikalisch grandiosen Abend, die Diktatur der strikten Gegenwarts-Bezogenheit aufzubrechen. Zeiten, Geschichten, Ereignisse überlagerten sich, vergangenes wurde vergegenwärtigt, hörbar und spürbar. Solche Situationen sind komplexer, vielschichtiger und berührender als es die oftmalige Banalität der strikten Gegenwartsbezogenheit jemals sein könnte. So werden Situationen der Subtilität und Komplexität geschaffen.
Die Fokussierung auf Party, auf Spaß, auf das Leben im „Hier-und-Jetzt“ hingegen lässt das Subtile alt und überholt erscheinen und den „Elfenbeinturm“ langsam, aber stetig bröckeln. Wie die Beats von der Life-Radio Bühne am Abend des Konzertes der „Wiltener Sängerknaben“ immer wieder das leise, subtile und differenzierte Klangbild störten, so mischt sich die Oberflächlichkeit immer wieder in die Feinheit und Vielschichtigkeit ein.
Es sind solch besondere Abende, die aber die Sinnhaftigkeit dieses manchmal notwendigerweise wenig subtilen Kampfes um das Subtile und Feingliedrige deutlich machen. Sie geben Kraft, schaffen Abstand und erzeugen Klarheit. Genau das, was es braucht, um zukünftigen Eingriffen und Störungen in diese wahre und schöne Kunst und Kultur entgegen zu treten. Ganz egal, ob das mit den Wiltener Sängerkaben oder auch mit den Tags darauf famos muszierenden „Capella de la Torre“ passiert.
Titelbild: Martin Gamper