Wie funktioniert Geschichte? Eigentlich recht einfach. Geschichte ist ein Erzählstrang, der bis in die Jetzt-Zeit reicht und zum Teil definiert, was und wer wir im Heute sind. Geschichte ist Tradition, eine Traditionslinie, eine Erzählung, mit der wir uns mehr oder weniger identifizieren.
Auch wenn wir diese Erzählungen aus der Vergangenheit, die stets als vielfältige und uneinheitliche Erzählungen gedacht werden müssen, von uns weisen, werden wir sie dennoch niemals ganz loswerden können. Besonders gilt das für die Kunst und die Kultur. Wir müssen uns bewusst sein, dass Innsbruck in der Epoche des Barock eine Kulturstadt von europäischem Rang gewesen ist. Prozesse, die dieses Wissen und diesen Erzählstrang schwächen, verändern auch unsere Identität und schwächen unser Selbstbewusstsein.
Es ist ein Faktum, dass wir etwas verlieren, wenn wir Erzählungen, Traditionen und geschichtliches Wissen von uns stoßen und durch neue, strikt auf den Zeitgeist ausgerichtete Erzählungen und Traditionen ersetzen. Die Fokussierung auf Tradition ist im Verdacht, dass derjenige, der sich mit ihnen beschäftigt, Traditionalist oder gar ein „Neuerungs-Verweigerer“ ist.
Das Gegenteil ist Fall: Wer sich mit der eigenen Tradition und der eigenen Geschichte nicht beschäftigt hat, hat kaum eine Möglichkeit wirklich Neuerungen zu schaffen. Er ist schlichtweg blind, was die Möglichkeiten im Heute betrifft, er tappt im Dunkeln und Neuerungen passieren zufällig.
Erst aufbauend auf dem Wissen über die Vergangenheit kann der Punkt gefunden worden, an dem Neuheit und Neuerung wirklich möglich wird. Alles andere ist Unwissen und Zufall. Im Heute braucht es zweifellos, mehr als jemals zuvor, den informierten, gebildeten Musiker, der sich mit den ästhetischen, instrumentalen und konzeptionellen Möglichkeiten der letzten Jahrhunderte beschäftigt hat.
Die mangelnde Qualität von einigem der heutigen Musik zeigt, dass das nicht oder zu wenig passiert. Anders gesagt: Es schadet nicht, wenn das Wissen über die Fuge und den Kontrapunkt in das eine oder andere Metal-Solo Einzug findet. Es kann nicht schaden, wenn die Improvisationskünste der Barock-Meister auch ihre Fortsetzung im Bereich der sogenannten „improvisierten Musik“ findet.
Das ist einer der Gründe, warum ich die „Innsbrucker Abendmusik“ unter der künstlerischen Leitung von Peter Waldner so schätze und als wichtig erachte. Vor allem in diesem Jahr wird vieles von dem geleistet, was mir als ein ganzheitliches und nachhaltiges Konzept vorschwebt. Unter der verstärkten Einbindung von Franz Gratl, dem Kustos der Musiksammlung der Tiroler Landesmuseen, wird der Blick in dieser Spielsaison verstärkt auf das „Eigene“ gelenkt, auf die eigene Geschichte. Tiroler Komponisten werden in den Vordergrund gerückt und im europäischen Kontext verortet.
Es ist nämlich ein Faktum, dass wir uns, damals wie heute, nicht für „unsere“ Komponisten und Musiker schämen müssen. Der Blick aufs „Eigene“ kann genauso herausfordernd und spannend sein wie der Blick auf dasjenige, das nicht nahe liegend und quasi „fremd“ ist. Wir neigen dazu, der Musik von „Anderswo“ eine heilsbringend, hervorragende Qualität zuzuschreiben, während wir „unsere“ Komponisten und Musiker als eine qualitativ wenig hochwertige Alternativen bezeichnen. Derjenige, der sich auf das „Eigen“ konzentriert, steht unter dem Verdacht provinziell und kleingeistig zu denken.
Ich behaupte das Gegenteil: Die Ausblendung des „Eigenen“ führt zu Kleingeistigkeit, Oberflächlichkeit und „Geschichtsblindheit“. Wenn mein Blick immer in die Ferne schweift und ich Qualität und Niveau nur „Anderswo“ vermute, dann ist mein Blick nicht scharf, nicht objektiv, nicht unvoreingenommen. Geographische Verortung darf nicht über mein Urteil entscheiden. Mein eigener „Provinz-Komplex“ darf nicht zur Annahme führen, dass es großartige Musik nur in New York oder in anderen Metropolen gibt.
Das „Verfahren“, das bei der „Innsbrucker Abendmusik“ zur Anwendung kommt ist in diesem Jahr recht leicht zu beschreiben und doch im Detail komplex. Peter Waldner geht es darum zu zeigen, dass es sich lohnt, den metaphorischen „Staub“ von den Partituren zu blasen. Vor allem den Staub von den Partituren der Komponisten, die in Tirol lebten und wirkten.
Das setzt natürlich vor allem voraus, dass Geschichte nicht als abgeschlossen wahrgenommen und definiert wird, sondern als ein bis ins Heute hineinwirkender Prozess. Grundlegend sind es „Verfahren“, welche der Marginalisierung preisgegebene Kompositionen wieder zum Vorschein bringen und deren Substanz sichtbar und hörbar machen.
Das allein wäre schon dahingehend eine Leistung, als sie die Pluralität der Tiroler Kulturgeschichte wieder in ihrer ganzen Komplexität und schillernden Vielfalt zeigt. Die Offenlegung dieser zum Teil vergessenen historischen „Stränge“ sind ein wesentlicher Beitrag zur „Eigenen“ Identität und zur ständigen Wandlung und Bewegung ebendieser. Geschichte ist notwendigerweise heterogen und nicht auf den Punkt zu bringen.
Das Offenlegen dieser vielfältigen Musikgeschichte zeigt, dass es sich lohnt auf das „Eigene“ zu schauen. Dieses „Eigene“ ist an sich schon so komplex, dass sich jede Frage nach Traditionalismus erübrigt. Traditionalismus ist die Stilllegung der Komplexität, Tendenzen der „Vereindeutigung“. Prozesse, die diese Komplexität wieder forcieren, sind hingegen Prozesse der „Vergegenwärtigung“, der „Lebendigmachung“ dieser Musik.
Das exakt ist der zweite Schritt, der bei der „Innsbrucker Abendmusik“ erfolgt: Die Kompositionen werden nicht nur in ihrer Geschichtlichkeit zur Aufführung gebracht, sondern auch auf ihre Gegenwärtigkeit hin befragt. Die Kompositionen wirken, wenn mit der richtigen Leidenschaft, den richtigen Musikern und dem richtigen Wissen zur Aufführung gebracht, auch im Heute in der Gegenwart auf den gegenwärtigen und aufmerksamen Rezipienten.
Der Rezipient lernt dabei viel über Geschichte, über Geschichten, über Tradition und Tradition und kann danach das Verhältnis von „Eigenem“ und „Fremdem“ besser einschätzen. Er lernt das „Fremde“ und Überraschende im „Eigenen“ zu erkennen und ist skeptisch den Tendenzen gegenüber, welches das „Fremde“ als das einzig Überraschende und Herausfordernde definieren und glorifizieren.
Ein Projekt wie bei der diesjährigen „Innsbrucker Abendmusik“ lässt die Dichotomie von „Eigenem“ und „Fremden“ kollidieren. Es legt die Komplexität der Musik an sich offen, die weder ein „Hier“ noch ein „Dort“, sondern nur Vergangenheit, Gegenwart und vor allem Präsenz kennt.
Insofern lässt sich bei der „Innsbrucker Abendmusik“ vor allem eines erleben: Die „reale Gegenwart“ von Musik und Kunst, bei der es sich aufgrund ihrer enormen Qualität und Substanz lohnt, sie aus Vergessens- und Marginalisierungsprozesse zu befreien. Hier wird der Beweis angetreten, dass in Tirol lebende und wirkende Komponisten unter Umständen die gleiche Substanz hatten, wie Musiker, die in den großen Städten wirkten und lebten.
Es muss somit Schluss sein mit dem immer noch vorhandenen „Provinz-Komplex“. Gute Musik ist gute Musik, egal wo sie komponiert wurde. Wir kümmern und zu viel um Kontexte und Verortung und zu wenig um die tatsächliche Substanz der Musik. Das alles und noch viel mehr lässt sich bei der „Innsbrucker Abendmusik“ lernen und erleben. Ein Besuch dieser außergewöhnlichen Konzertreihe ist somit dringend anzuraten. Die aktuelle Spielsaison beginnt am 10. Oktober. Auch die Lektüre des Programmbuches lohnt sich vorab.
Titelbild (Rolf Lislevand): Guiseppe Camminati