Sofia Rei bringt aufregende "Weltmusik" ins beschauliche Schwaz

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„Weltmusik“ ist schlecht, wenn sie die Existenz eines Ortes, eines geographischen Raumes oder eines Kulturkreises behauptet, der so nicht mehr existiert. Aus der bloßen Behauptung dieser Existenz leitet sie ästhetische und musikalische Grundsätze ab, die erhalten werden müssen.
Sie stellt sich damit in den Dienst der Echtheit und der Authentizität. Sie verteidigt lediglich, imaginiert und entwirft aber nicht. Sie blickt nicht in die Zukunft, sondern verklärt die Vergangenheit und das Gewesene. Sie nimmt der Musik ihre Lebendigkeit und ihre Jetzt-Bezogenheit.
Will „Weltmusik“ in der Gegenwart noch relevant sein, dann muss sie sich von diesen falschen Grundsätzen befreien. Sie darf sich nicht mehr auf den einen, bewahrens- und schützenswerten Ort oder Kulturkreis beziehen, sondern muss ihre Energie und Kraft aus einer Vielzahl von Orten gewinnen. In der zeitgenössischen Betrachtung durch die „Weltmusik“ muss außerdem deutlich sein, dass diese „Orte“ nicht homogen sind. Aber es lassen sich einzelne Stränge, Ideen, Grundsätze und Lieder finden, die aufzugreifen sich lohnt.

„Weltmusik“ ist damit nicht mehr Musik, die sich auf die Authentizität einzelner Lieder aus bestimmten Kulturen beruft und diese möglichst mit diesem Blick interpretieren möchte, sondern sie benutzt sie als Ausgangsmaterial um neue Räume und Orte zu imaginieren, die so (noch) nicht existieren. „Weltmusik“ entwirft hier Musik auf die Zukunft hin, hat keinen verklärenden Blick auf und in die Vergangenheit.
Im Gegenteil: Der Blick in den Fundus der Möglichkeiten ist forschend, suchend, an der richtigen Stelle demütig aber auch, wenn nötig, respektlos. Es gibt kein richtig oder falsch. Es gibt „nur“ musikalisch überzeugende Umsetzungen.

Sofia Rei in der „Eremitage“

Damit werden die Abenteuerlust und die Musikalität zur Antriebsfeder schlechthin. Beim Konzert von Sofia Rei in der Schwazer „Eremitage“ wurde exakt das deutlich. Die argentinische Musikerin, die seit einigen Jahre in New York lebt, entwirft, imaginiert, formuliert und denkt neu. Ihr musikalischer Blick ist nicht verklärt oder gar um eine falsche Authentizität bemüht.

Sofia Rei in der "Eremitage" in Schwaz: Ein leidenschaftlicher, musikalisch brillanter Entwurf einer möglichen "Weltmusik" (Bild: Peter Troyer)
Sofia Rei in der „Eremitage“ in Schwaz: Ein leidenschaftlicher, musikalisch brillanter Entwurf einer möglichen „Weltmusik“ (Bild: Peter Troyer)

Im Laufe des Konzertes wird deutlich, dass Sofia Rei und ihre beiden Mitmusiker in verschiedensten Welten beheimatet sind, jedoch in keiner so fest verwurzelt, dass sie glauben würden, diese „Heimat“ wäre es Wert, in ihrer Ursprünglichkeit und Echtheit verteidigt zu werden.

 
Statt Rückbezüglichkeit steht die kreative und musikalisch brillante Neuformulierung im Vordergrund. Die Stimme von Sofia Rei wirkt an diesem Abend so, als gäbe es absolut keine Einschränkungen und absolut nichts, was sie nicht singen könnte. Eine tieftraurige Ballade mexikanischen Ursprungs findet ebenso Platz wie Song-Experimente, die sie in New York mit John Zorn angegangen ist.
Stimmlich ohne Einschränkungen und grenzenlos: Sofia Rei (Bild: Vermont Jazz Center)
Stimmlich ohne Einschränkungen und grenzenlos: Sofia Rei (Bild: Vermont Jazz Center)

Nichts davon zerfällt, nichts davon franst aus oder wirkt im Kontext des gesamten Sets deplatziert. Ebenso wenig wie Sofia Rei an eine kulturelle Homogenität und einen Authentizitäts-Anspruch bei der Interpretation von Lieder aus konkreten Kulturräumen zu glauben scheint, hat sie auch nicht die Idee, eine homogene Set-List zu gestalten, die es Hörern von „konventioneller“ Weltmusik allzu leicht macht.
Ja, diese Musik groovt, hat lateinamerikanische Implikationen und Grundlagen. Aber da ist auch die Komplexität und Schrankenlosigkeit eines modernen Jazz, der an der Pluralität des wuchernden New York geschult ist. Da ist auch eine Sensibilität in Sachen Melodie, die an die progressiveren Tendenzen der zeitgenössischen urbanen Popmusik angelehnt scheint.
Der forschenden, neugierige Blick einer Weltenbürgerin: Sofia Rei (Bild: Cindy Byram)
Der forschenden, neugierige Blick einer Weltenbürgerin: Sofia Rei (Bild: Cindy Byram)

Ihrer Genialität und der Musikalität der gesamten Band ist es geschuldet, dass diese teilweise disparaten Einflüsse und Konzepte niemals beliebig klingen. Das ist kein „Crossover“. Kein willkürliches Stil- oder Genre-Wechseln. Ihre Musik wirkt deshalb homogen, weil hier neue Prinzipien einer Homogenität überzeugend ausformuliert werden.
Die Homogenität liegt in der Heterogenität, der man die Beliebigkeit austreibt und sie durch musikalische Stringenz ersetzt. Die Einheit liegt in der Vielheit, die an den musikalischen Möglichkeiten der ganzen Welt geschult ist und daraus eine einheitliche Idee einer möglichen, neuen, hochinteressanten „Weltmusik“ entwirft.
Wenn das eine neue, aufregende „Weltmusik“ ist, die Schluss gemacht hat mit verteidigenden, regressiven Echtheits-Ansprüchen, dann ist die Zukunft der Weltmusik rosig. Sofia Rei hat das Zeug dazu, zu den federführenden Protagonistinnen dieser neuen ästhetischen Grundsätze einer zeitgenössischen Weltmusik zu werden.
Das Publikum in der „Eremitage“ war begeistert. Zu Recht!

Titelbild: http://mundialmontreal.com/

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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