Zeitgenössische Musik hat ein Problem. Tendenziell erzählt sie nichts mehr. Außer von sich selbst. Größtenteils löst sie beim Hören keine Bilder im Kopf des Zuhörers aus. Wenn sie etwas auslöst, dann ist es höchstens die intellektuelle Erkenntnis, dass diese Art von zeitgenössischer und avantgardistischer Musik die Unübersichtlichkeit und Komplexität der heutigen Zeit auf musikalischer Ebene thematisiert.
Sie spiegelt zu viel, ist aber zu schwatzhaft wenn es darum geht, ihre eigenen musikalischen Möglichkeiten und Errungenschaften vorzustellen. Sie ist hingegen zu schweigsam, wenn es darum geht, die großen Themen der Menschheit auf neue Weise zu interpretieren und zu inzsenieren.
Somit ist es kein Zufall, dass in diesem Kontext vor allem die Komposition „Let me tell you“ von Hans Abrahamsen international geradezu hymnisch besprochen wird. Sie erfüllt eine Sehnsucht. Die Komposition des dänischen Komponisten wagt sich nicht in die sogenannte „Freitonalität“ hinaus, sondern unterfüttert und konterkariert die bekannte Tonalität der klassischen Musik mit mikrotonalen Elementen. Sie verschiebt, schlägt aber Traditionen nicht kaputt. Sie erzählt, scheut sich aber nicht davor manchmal kryptisch zu sein. Sie kennt Fragmentierung, bietet aber einen roten Faden.
Abrahamsen hat diese Komposition, wohl nicht ohne Grund, der Sängerin Barbara Hannigan auf den Leib geschrieben. Das Werk steht und fällt mit ihr. Sie verkörpert die Ophelia, entnommen natürlich dem Werk „Hamlet“ von Shakespeare, mit voller Sinnlichkeit, aber ohne Pathos und Künstlichkeit. Dabei wird die Rolle aus dem Gesamtkontext des Textes isoliert und steht in einem gänzlich anderen Zusammenhang. Es geht um Ophelia, natürlich um Weltliteratur, aber genauso um Musik an sich und in nicht geringen Anteilen um die atemberaubend gut singende Barbara Hannigan und deren Emotionen.
Ganz generell ist Barbara Hannigan vielleicht im Moment die Hoffnung für die zeitgenössische Musik schlechthin. Sie ist eine Intellektuelle, welche die zu singenden Werke geradezu durchdringt, auf wahnhaft präzise Weise verinnerlicht und auf ihre ganz eigene, manchmal auch subjektive, aber konsequente und zu Ende gedachte Art und Weise interpretiert. Auf der Bühne ist davon aber vor allem zu merken, dass sie leichtfüßig, ja spielerisch und mit enormer Präsenz und Wachheit durch komplexe Kompositionen tänzelt. Und erzählt. Und ihre Figuren mit so viel Leben und Sinnlichkeit füllt, wie es kaum eine andere Sängerin in der Jetzt-Zeit kann.
Dem akademischen, spröden und meist strikt intellektuellen Anstrich mancher Kompositions-Schulen und Interpretationsweisen macht sie damit einen gehörigen Strich durch die Rechnung. „Let me tell you“ quillt geradezu über, wenn es um Bilder geht, die ganz konkret, handfest und greifbar sind.
Die Themen sind Schnee, Eis, Sehnsucht, Liebe, Tod. Die großen Themen schlechthin, in einem ganz greifbaren Umfeld. Im Zentrum thematisiert sich die Musik selbst, aber nicht rein selbstbezüglich indem sie protzend die eigenen Möglichkeiten und Finessen vorstellt, sondern indem sie sich selbst in den Zusammenhang der vergehenden Zeit der Narration des Stücks setzt.
An manchen Stellen klingt das Orchester, als ob Eis klirren würde. Auch die Schritte der Ophelia im Schnee sind leicht hörbar. Bilder über Bilder, gebrochen mit dem notwendigen Maß an Abstraktion und Komplexität, die aber niemals zum Selbstzweck verkommen, sondern sich in den Dienst dieser großartigen musikalischen Erzählung stellen.
Nach dem Hören dieser Aufnahme ist man erschöpft, obwohl sie kaum mehr als 30 Minuten dauert. Weil man sich gewiss sein kann, gerade eine Aufnahme gehört zu haben, die der zeitgenössischen Musik einen Bärendienst erwiesen hat. Sie wird weit über die üblichen Zirkel hinaus rezipiert werden. Es ist sinnliche, intensive, kraftvolle Musik, jenseits der üblichen Grenzen und „Avantgarde-Maschen“. Wenn man eine Aufnahme mit zeitgenössischer Musik in diesem noch jungen Jahr unbedingt gehört haben muss, dann diese. Etwas besseres wird in diesem Jahr wohl nicht mehr nachkommen.
Titelbild: Elmer de Haas