Das Jahr 2016 wird möglicherweise als das Jahr in die Musikgeschichte eingehen, in dem sich Progressive-Rock endgültig selbst verschlungen hat. Zwei Götter der „Szene“ sind vor einiger Zeit bereits auf Distanz gegangen: Steven Wilson und Devin Townsend.
Steven Wilson fragte sich kürzlich sinngemäß, ob das „progressive“ im Namen dieses Genres wirklich noch zu Recht geführt werde. Devin Townsend überspitzte die Musikästhetik wiederum unter anderem mit seinem Album „Deconstruction“ so sehr, dass man diesem Album nur mehr mit Hilfe des eigenen Humors näher kommen konnte. Ernst nehmen konnte die Musik auf diesem Album niemand mehr. Zuallerletzt tat das Townsend selbst. Vielmehr war sie ihm willkommenes Material und bereitgestellte Spielwiese, um seinen grotesken Humor und seinen Größenwahn ostentativ zur Schau zu stellen.
Natürlich kann man es sich schon längst abschminken, mit Progressive-Rock-Hörern darüber zu diskutieren, ob nicht alles irgendwie und überhaupt durch den Ästhetik des Punk gegangen sein muss. Muss es nicht. Zum Glück nicht mehr. Dennoch darf man sich an die Zäsur erinnern, die damals plötzlich durch ein paar, zum Teil geniale, Dilettanten hervorgebracht wurde. Jeder konnte von heute auf morgen zum Instrument greifen, ein paar Akkorde runterschrubben und gegebenenfalls, falls das Können nicht einmal dazu reichte, auf irgendwelche Dinge hämmern oder diese notfalls auch noch zertrümmern. Lange Musikstudien waren passé.
Das brachte, zugegebenermaßen, ein paar bemerkenswerte Ergebnisse hervor. Vorbei waren die Zeiten der 10-minütigen Keyboard- und Schlagzeug-Soli, Vergangenheit das Suchen nach dem möglichst ungewöhnlichen Akkord und dem abwegigsten Takt.
Bald hatte sich diese Ästhetik des „Nicht-Könnens“ aber überholt und der Rückkehr des Prog-Rock, gegen dessen Bruder „Art-Rock“ der Punk in den 70ern angetreten war, stand nichts mehr im Wege. Er kam zum Teil grimmig in Death-Metal-Form zurück und manifestierte sich in Band wie „Opeth“, die über ihre Karriere hinweg immer mehr nach 70ern und sukzessive weniger nach Death-Metal klangen. Auch Bands wie „Death“ oder „Animals As Leaders“ darf man ohne schlechtes Gewissen Einflüsse aus dem Progressive-Rock attestieren. Diese Liste ließe sich fast endlos fortführen.
Dream Theater: „The Astonishing“ ist wenig erstaunlich, im Gegenteil
Progressive-Rock hat sich somit schon in einer Vielzahl von Manifestationen gezeigt. Manchmal sogar mehr als Haltung, weniger als Ästhetik. Im schlimmsten Fall wurde die Ästhetik zur Masche und der Begriff „progressive“ führte sich in der endlosen und langweiligen Wiederholung von Klischees ad absurdum. Progressive-Rock war in diesem Fall nicht mehr die Idee, dem Rock- oder Metal-Mainstream interessante und ungewöhnliche Riffs und Rhythmen abzutrotzen, sondern ein System, das sich nur mehr strikt auf sich selbst bezog. Gewisse Codes, Breaks und Riffs mussten schlicht und einfach vorhanden sein, damit sich die jeweilige Musik Progressive-Rock schimpfen durfte.
Wenn Steven Wilson diesem Problem entkommt, indem er eine musikalisch offene Platte wie „Hand. Cannot. Erase“ herausbringt, dann tappen Dream Theater mit ihrer neuem Album „The Astonishing“ in genau die hier beschrieben „Prog-Rock-Falle“. Vom Humor eines Devin Townsends ist hier nichts zu spüren. Bierernst und mechanisch muszierend wird hier zur Tat geschritten. Der musikalischen Offenheit von Steven Wilson wird außerdem eine strikte, bis zum Äußersten getriebene Prog-Rock-Ästhetik gegenüber gestellt.
Klar somit, dass Dream Theater sich ganz ungeniert mit dem Medium „Rock-Oper“ beschäftigen. Ja sogar das Unwort „Konzept-Album“ muss hier in den Mund genommen werden. Wer sich fragen möchte, was denn „The Gift of music“ überhaupt ist, der muss sich zuerst durch zwei instrumentale Tracks quälen. Eines davon wird, zur Geschichte durchaus passend, als „Dystopian Overture“ bezeichnet.
Nach zahlreichen „Uuhs“ und „Aahs“ des Chors, nach nicht wenigen Breaks und Frickel-Passagen erfährt man es endlich. Der Erzähler dieser Rock-Oper berichtet davon, dass Menschen einfach keine Zeit mehr für Musik hätten und sich niemand darum kümmern würde.
So pathetisch und passend dieses Bild im dystopischen Szenario dieses Albums sein mag, so sehr wirkt es auch wie ein Kommentar zur eigenen Musik. Die Menschen hören nur mehr Musik, die sich in 3-Minuten- und 3-Akkorde-Kategorien einordnen lässt. Zum Glück gibt es Bands wie Dream Theater, die gegen dieses Horror-Szenario antreten und uns die gute, wahre und schöne Lehre des Progressive-Rock verkünden, der sich auch mal über 2 Stunden und 34 Tracks Zeit lässt, um seine Botschaft zu verbreiten.
Was genau ist aber an „The Astonishing“ tatsächlich erstaunlich? Möglicherweise die Vehemenz und die Sturheit, mit denen Dream Theater hier ans Werk gehen. Erstaunlich auch, wie käsig und billig die Keyboards klingen. Bemerkenswert außerdem, dass man einem echten und vor allem normalerweise auch guten Orchester jegliche Echtheit und Brillanz austreiben kann. Unter dem tonnenschweren Anspruch und unter den endlosen Balladen, die auch mal an die Band „Extreme“ erinnern können, kollabiert auch noch das interessanteste Orchester.
Dabei könnte alles so schön sein. Die Chöre könnten himmelhochjauchzend sein, während der Sänger James LaBrie zu Tode betrübt davon erzählt, wie seine Frau stirbt. Die Geschichte des Albums könnte so spannend sein. Allein: Man will sie nicht hören, ihr nicht folgen. Man rettet sich von Track zu Track in der Hoffnung, doch noch progressive Musik im ursprünglichen Wortsinn zu entdecken. Vergeblich. Prog-Rock-Klischees werden überlebensgroß aufgeblasen, die Band zitiert sich schamlos selbst und übertüncht ihre normalerweise schon schwer zu ertragende Musik mit allerhand Orchester- und Chor-Sauce.
Da passt es sogar noch gut ins Bild, dass die Band selbst Pink Floyd und „The Wall“ ins Rennen schickt. Quasi als Vergleichswert für das eigene, herbeibeschworene Meistwerk. Möglicherweise ist diese Platte auch ein Meilenstein. Ein Meilenstein jedoch in der Hinsicht, dass sie endgültig aufzeigt, wie es für Progressive-Rock nicht mehr weitergehen kann. Diese Platte ist womöglich ein Endpunkt, der sich kaum mehr ertragen lässt. Man könnte es zumindest hoffen. Nach einem solchen Album wünscht man sich die Einfachheit und den Dilettantismus des Punk zurück. Aber nur fast.
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Titelbild (c): Jimmy Fontaine