Die „Ich-Maschine“ hat ein paar Schrauben locker
Spätestens bei „Verbotene Früchte“ ist der gute Jochen Distelmeyer endgültig durchgeknallt. Kein Wunder. Als Diskurs-Popper der ersten Stunde kann man schon einmal den Überblick verlieren. Bei all den Diskursen, all den zu beschreibenden Kulturphänomenen und bei all diesen politischen und gesellschaftlichen Missständen. Quasi neue Unübersichtlichkeit. Und wie war das noch einmal mit dem Tod des Autors? In der Post-Postmoderne sind jedenfalls schwere Zeiten für das souveräne Subjekt angebrochen, das sich seinen Reim auf all die Dinge machen will. Dann doch lieber Kapitulation oder Rückzug in die Natur.
Zweifellos. Die „Ich-Maschine“ läuft bei diesem Album nicht mehr so richtig rund und hat ein paar Schrauben locker. Sie läuft zumindest auf Sparflamme. Weniger sucht sie den avancierten Diskurs als die temporäre Diskurslosigkeit. Weniger möchte Distelmeyer hier klug daher singen, als sich (s)einen kleinen poetischen Reim auf die Welt und die ihn umgebende Natur machen. Überbau adé, Diskurspop bitte warten.
Mit dem Titel „Schnee“ wird diese Platte eröffnet: „Noch trägt die Welt ihr weißes Kleid/ Die Nacht hat alles zugeschneit/ Ich steh´ am Fenster da/ und schaue auf den Schnee.“ Weiter führt der sanft und milde gestimmte Distelmeyer aus: „Und weiß wie Schnee ein Blatt Papier/ Liegt da und fragt: ´Wie geht es dir?´/ Ich mach mir meinen Reim/ Und singe, was ich seh´“. Was zur Hölle will uns der alte Jochi-Boy damit sagen? Womöglich, dass er über die Jahre nicht nur sanfter, sondern auch weicher geworden ist. Ein kleiner, aber gewichtiger und entscheidender Unterschied.
Distelmeyer ist nicht nur sanfter geworden, was seine Sicht auf die Dinge und die allgemeine Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation betrifft, sondern er positioniert sich auch als Subjekt neu der Welt, der Umwelt, der Natur und den Phänomen gegenüber. Sein „Testament der Angst“ hat er schließlich schon geschrieben.
Von Bienchen, Pferdchen und Blümchen – und warum es nicht egal ist
Jetzt wird es Zeit, sich mit den lieben kleinen Tierchen zu beschäftigen. Schmetterlinge, Raben und überhaupt. Schaut euch doch mal all die Tiere um uns herum an. Was für eine Artenvielfalt! „Nimm das Pferdchen, das den Wagen lenkt/ Oder die Biene, die uns Honig schenkt/ Kühe und Schafe und den Hund bei uns zu Haus“. Aber wirklich. Manchmal ist es halt einfach Zeit um DANKE zu sagen und die politischen Missstände politische Missstände sein zu lassen.
Die Frage, die sich der Hörer bei „Verbotene Früchte“ stellt wiederholt sich. Was bitte ist mit DEM los? Aber diesen Menschen nimmt Jochi-Boy eigentlich schon bei seinem Lied „Wir sind frei“ den Wind aus den Segeln: „Und mache sagen: Der Typ gehört in Therapie/ Kann sein, doch um mich weht ein Hauch von Anarchie“. So gehört auf dem Vorgänger-Album, das wohl nicht umsonst „Jenseits von Jedem“ heißt.
Distelmeyer hat sich freigespielt von Zwängen, Vorstellungen und Erwartungshaltungen und macht sich seinen ganz eigenen Reim auf die Dinge. Peinlichkeit ist keine Kategorie für ihn. Wenn Jochen D. die Bienchen Honige sammeln sieht, dann singt er das auch. Verdammt noch mal. Diese Freiheit nimmt er sich einfach.
Wenn das lyrische Ich auf dem Album aber nicht gerade Flüssen beim Fließen zuschaut, mit Raben fliegt oder flatternden Schmetterlingen dabei zusieht, wie sie aber das Land fliegen, dann schwingt er sich in diesem Kontext zu erstaunlichen und unerwarteten Aussagen auf: „Die Götter sind korrupt/ Das Leben ist nicht fair/ Der Himmel ist kaputt/ Die Träume stehen leer/ Die Wahrheit tut oft weh/ Und Darwin war genial/ Doch so wie ich es seht/ Es ist nicht egal/.“ Wie jetzt? Alles scheiße außer den Bienchen und Pferdchen? Auf den ersten Blick schaut es ganz so aus.
Auch wenn die Wahrheit weh tut. Es verhält sich doch anders. Distelmeyer nimmt sein lyrisches Ich und geht in die Natur, weil er die Schnauze von der Welt gestrichen voll hat. Was aber nicht heißt, dass im alles egal geworden wäre. Im Gegenteil. Wer die Natur beobachtet und ihre Schönheit sieht, der selbstverständlich wütend, wenn er sich unsere vermurkste Gesellschaft anschaut: „Später wenn ich in meinen Wolken sitze/ In meine Sphären aus Schall und Rauch/ Schlage ich Funken, schleudere Blitze/ Und meinen Donner rollen, lasse ich auch/“. Nehmt euch also in Acht vor diesem neuen, vermeintlich sanften Distelmeyer! Wenn er den Schnee vor seinem Haus am Land weggeschöpft hat, kann er auch mal ganz schön politisch und ungemütlich werden.
Fazit
Ist „Verbotene Früchte“ jetzt tatsächlich die Rückzugsplatte von Blumfeld, auf der Jochen Distelmeyer ein neues Biedermeier ausruft? Natürlich nicht. Es ist vielmehr eine Erweiterung des Schaffens bis dahin. Noch mehr Mut, noch weniger Einschränkungen, noch mehr Direktheit.
Wenn diese Platte peinlich wirkt, dann nur, weil sie sich absolut nicht darum kümmert, dass wir in solchen Kategorien denken. „Verbotene Früchte“ ist anarchisch, weil sie auf Erwartungshaltungen scheißt. Was das lyrische Ich sieht und wahrnimmt, das ist auch Wert beschrieben und besungen zu werden. Wo kämen wir denn hin, wenn wir uns überlegen würden, ob die Bienchen und die Schmetterlinge überhaupt interessant genug sind? Na eben.
Eigentlich hätte man dieses Album ja vorausahnen müssen. Schließlich gibt es das Lied im Lieder-Repertoire von Blumfeld, das darauf hinweist, dass das System von Jochi keine Grenzen kennt. In ebendiesem Song wird gar „Da steht ein Pferd auf dem Flur“ zitiert. Diskurs-Pop steht neben Schlager-Affinität, intellektuelle und scharfsinnige Analyse der Verhältnisse trifft auf Tierliebe und Naturlyrik. Für Distelmeyer war das nie ein Widerspruch. Das bringt er auf diesem Album so gut auf den Punkt und so präzise zum Ausdruck wie selten zuvor und nur mehr selten danach.
Hier geht es zu der vorangegangenen Folge von "Plattenzeit".
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Titelbild: Wikipedia