Extreme Musik: Die Erschütterung der „Natürlichkeit“
Wer hört, der vergleicht. Wer hört, der hat Erwartungshaltungen. Diese werden entweder bestätigt oder erschüttert. Extreme Musik neigt dazu den eigenen Erwartungshorizont zu sprengen und zu überschreiten. Dieser ist zugleich auch ein Verstehens-Horizont.
Der Hörer kennt gewisse Strukturen, Harmonien, Melodien, Akkorde. Diese Kenntnis erarbeitet er sich nicht nur individuell im aktiven und bewussten Musik hören, sondern diese hat auch mit kulturellen Konditionierungen und Konventionen zu tun. Es ist entscheidend, in welchem Kulturkreis man aufwächst. Töne, Harmonien und Akkorde an sich bedeuten nichts. Es sind die Zuschreibungen der Hörenden, die sie bedeutend machen.
Durch diese „Bedeutend-Machung“ werden diesen auch Emotionen angeheftet. Ein Liebeslied im „Fernen Osten“ wird gänzlich anders klingen als ein Liebeslied im „Westen“. Es werden andere Tonleitern, andere Akkorde, andere Zugänge gewählt werden. Was für uns „schief“ und „falsch“ klingt, ist für andere Kulturkreise harmonisch, schön und angenehm.
Extreme Musik ist insgesamt Musik, die abweicht. Sie hebt kulturelle Grenzen und Dichotomien kurzerhand auf. Sie verfolgt eine Bewusstmachung, dass es die vermeintliche „Natürlichkeit“ der Hörgewohnheiten und Konventionen nicht gibt und es diese aufzuheben gilt.
Wir können unser „westliches“ Gehör mit Mikrotonalität konfrontieren und es damit herausfordern. Wir werden auf diese Tonschritte, die nicht in Halbtönen funktionieren, zunächst irritiert reagieren. Nach einer bestimmten Zeit wird es aber möglich sein, diese in unser Hör-Repertoire zu integrieren.
Extreme Musik weitet und erweitert somit das Hör-Repertoire und bringt Konventionen, Gewohnheiten und die Konstruktion „Natürlichkeit“ in Bewegung.
Extreme Musik möchte ich somit primär damit definieren, dass sie Erweiterungen und Veränderungen im Sinn hat. Das kann immanent geschehen, etwa indem bekannte Strukturen so lange gedehnt und ausgereizt werden, bis sie fast kollabieren. Dazu ist die musikalische Komplexität ein willkommenes Mittel.
Abseits der „Natürlichkeit“
Dazu ist das Hörbeispiel der deutschen Band Obscura (Hörbeispiel 1) ein interessantes Beispiel. Hier werden ebenso viele Konventionen erfüllt wie gebrochen. Die eingeschliffenen Dissonanzen irritieren. Erst beim genauen Hinhören erschließt sich die ganze Komplexität des Stückes.
Besonders interessant in diesem Kontext ist auch die Musikerin Mary Halvorson (Hörbeispiel 2), die auf ihrem aktuellen Solo-Alben „Meltframe“ eigentlich Songs „covert“. Ihr liegt aber nicht daran, diese so zu interpretieren, dass man sie sofort wiedererkennt. Vielmehr geht es ihr darum, schelmisch Haken zu schlagen, Unerwartetes und Unerwartbares als lustvolle Kategorien einzuführen. Wer diese Musik hört, freut sich nicht darüber, wenn er etwas wiedererkennt, sondern wenn das Vertraute radikal verändert wird.
Im Hörbeispiel 3 hören wir den Musiker David Fiuczynski (Hörbeispiel 3). Dieser hat sie nicht nur mit Mikrotonalität, sondern auch mit den ebenfalls mikrotonalen Gesängen von Vögeln beschäftigt. Damit hebt er nicht nur kurzerhand die Dichotomie von „West“ und „Fern Ost“ auf, sondern auch die zwischen Natur und Kultur. Eine extreme Aufnahme im allerbesten Sinne. Wie ließe sich schließlich die Kultur der (Hör-)Gewohnheit und der Natürlichkeit besser erschüttern als mit „exotischen“ Skalen und Klängen aus der Natur, die nicht durch den Filter der Kultur gegangen sind?
Im Hörbeispiel 4 hört man die Band Sunn o))). Hier wird vor allem mit einem Dogma gebrochen, das sich über die Zeit ebenfalls verhärtet hat und kaum mehr hinterfragt wird: Das Dogma der Klimax und des „Sich-Ereignen-Müssens“. Die 12:46 dieses Tracks stellen Hörgewohnheiten in Frage, weil kaum etwas passiert. Das Stück thematisiert Nichts statt Etwas. Das Ohr richtet sich damit nicht auf die großen Veränderungen, sondern auf die kleinen Soundunterschiede, auf das Feedback der Gitarren, auf kleine Verschiebungen. Das ist nicht neu, wird aber von dieser Band überzeugend interpretiert und zeitgenössisch ausgelegt.
Natürlich sind diese Hörbeispiele nur eine kleine, subjektive Auswahl. Aber sie sind eine brauchbare Auswahl um sein eigenes Hör-Repertoire an Sounds, Klängen, Motiven, Harmonien und Akkorden zu erweitern. Damit ist der Weg natürlich nicht zu Ende. Aber es könnte ein möglicher Anfang sein.
Zum Reinhören
Titelbild: (c) Peter Beste