Plattenzeit #17: Joni Mitchell – Blue

7 Minuten Lesedauer

Dünnhäutig


Viele Erzählungen umranken das Album „Blue“, das im Jahr 1971 erschien und somit in diesem Jahr 45 Jahre jung wurde. „Blue“ ist eine Herzschmerz-Platte. Nach einer schmerzhaften Trennung flüchtet Joni Mitchell nach Europa, auf warme Inseln ebendort und schreibt einige der hier versammelten Songs. Es sind mit die besten Songs, die man je von ihr gehört hat. Zu Recht gilt dieses Album als Meilenstein.
„Blue“  beginnt einfach, klar und direkt mit dieser Textzeile: „I am on a lonely road and I am traveling, traveling, traveling, traveling/ Looking for something, what can it be“. Es fällt sehr leicht einen emotionalen Bezug zu dieser Stimme herzustellen. Eine weitere Erzählung rund um die Aufnahme von diesem Album legt es nahe, dass die musizierende und singende Person hier keinerlei emotionale Filter benutzt. Die „Ich-Erzählerin“ auf „Blue“ ist keine fiktive Person. Mitchell zeigt sich ganz, braucht keine Kunstgriffe oder Verschleierung-Taktiken.
Wir haben es hier mit einem Album zu tun, welchem man wie fast keinem anderem das Etikett „Selbstoffenbarung“ umhängen kann. Die Geschichte, dass Joni Mitchell zu dieser Zeit so dünnhäutig gewesen sei, dass ein falscher Blick sie schon zum Weinen brachte dürfte verbürgt sein. Dass bei den Aufnahmen aus eben diesem Grund keine Störungen erwünscht waren versteht sich dann fast schon von selbst.


Zwischen den Stühlen


Es wäre somit sehr einfach, „Blue“ als das Album einer hyper-sensiblen, dünnhäutigen und psychisch angeknacksten Person zu stigmatisieren. An Alben dieses Zuschnitts fehlt es wahrlich nicht in der Musikgeschichte.
Doch das wäre zu einfach. „Blue“ ist vor allem im Kontext der musikalischen Entwicklung von Mitchell zu sehen. Spätestens mit „Hejira“ war im Jahr 1976 Joni Mitchells Gespür für Jazz zu bemerken. Zumindest war es das, was sich Menschen, die Jazz eigentlich weder kennen noch mögen, darunter so vorstellen. Ja, natürlich war dort Jaco Pastorius am Fretless-Bass zu hören. Dadurch wurden Grenzen, was Bassläufe in vermeintlichen Folk-Songs betrifft doch einigermaßen radikal überschritten.
Der Hintergrund dieser Übung war allerdings nicht akademischer Natur. Virtuosität im der Virtuosität Willen wird man auf keinem ihrer Alben finden. Dafür aber eine ausgeprägte Liebe für ungewöhnliche Gitarrenstimmungen und damit einhergehende hochinteressante Akkorden. Mit dem üblichen Singer-Songwriter-Geschrammel ist bei bei der guten Joni nicht getan. Ob das dann schon Jazz ist? Natürlich nicht. Aber die zeitweise Abweichung in Sachen Harmonien macht das Hören ihrer Album zu einer höchst interessanten und lohnenswerten Sache.
„Blue“ ist eine Art Übergangsplatte. Sie ist auf diesem Album keine hippieske junge Frau mehr. Die Person mit deutlichem Hang zum Infrage-Stellen von konventionellen Songstrukturen ist außerdem noch nicht im Vordergrund.  So bekommt man letzten Endes beides. Eine Platte, welche die gute alte Hippie-Zeit noch als Schatten mittransportiert aber aus dieser Ästhetik heraus gewachsen ist. Nicht Hoffnung, Aufbruch und Gemeinschaft sind Leitmotive dieses Albums, sondern Einsamkeit, Isolation, Enttäuschung und Eskapismus.
„Oh I wish I had a river/ I could skate away on“ skandiert Mitchell in ihrem Lied „River“. Sie sehnt sich nach Kalifornien in „California“: „California, I´m coming home“. Hier wirkt sie fast schon glücklich und euphorisch. Zugleich erzählt sie aber von der Einsamkeit anderswo: „Oh it gets so lonely/When you´re walking/ And the streets are full of strangers“. Die Hölle, das ist die Fremde. Zugleich ist es an für Mitchell vertrauten Orten wie Kalifornien oder Kanada auch nicht nur ur-super. Eine junge Frau also zwischen allen Stühlen, die weder hier in ihrem selbstauferlegten Exil in Europa bleiben möchte noch freudestrahlend zurückkehren kann.


Klarheit


Auf „Blue“ gelingt etwas eigentlich Paradoxes. Das Album hat an sich keine doppelten Böden. Man muss nicht lange nach der Person Joni Mitchell suchen. Sie serviert sich selbst, ihre Gefühle und Abgründe sozusagen auf dem Silber-Tablett mit dem Gestus, dass sie ja eh nichts zu verbergen hätte. Dennoch nervt das nicht. Man fühlt sich in keinem Augenblick überwältigt oder gar gezwungen ihr zuzuhören.
Zugleich verfügt sie aber schon über ihre musikalischen Mittel und ihre Möglichkeiten. „Blue“ klingt niemals nach einem leichtfertigen Album, das eben mal so hingeworfen wurde, damit nur ja nicht die Unmittelbarkeit der eigenen Gefühle verloren geht. Mitchell verfolgt somit eine ganz eigene Ästhetik, die sie von so manchem Singer-Songwriter unterscheidet. Sie arbeitet an ihren Ausdrucksmöglichkeiten, an ihrem Akkorde- und Harmonien-Repertoire, an möglichen andersartigen Instrumentierungen und Genre-Überschreitungen. Die Komplexität der eigenen Gefühlswelt hat sich in der Komplexität und Vielfalt der gewählten Ausdrucksmittel wiederzufinden.
Damit erreicht Joni Mitchell auf „Blue“ eine unglaubliche Klarheit und eine Einfachheit, die eigentlich besser als Direktheit ausgelegt werden sollte. „Blue“ ist definitiv kein schwieriges oder gar „jazziges“ Album. Aber es ist ein Album, das seine Mittel geschickt und mit großer Virtuosität auswählt und punktgenau zum Ausdruck bringt. Hier ist nichts beliebig oder zufällig.


Fazit


Man kann hier dem Hype trauen. Denn gemeinhin wird „Blue“ als eines der besten Alben aller Zeiten gehandelt. Selten wird einem so augenblicklich klar, dass diese Zuschreibung zutrifft. Das Album ist keine 40 Minuten lang. Es ist nicht geschwätzig oder überfrachtet. Es ist ist, was es ist: die Essenz der Songschreib-Kunst der großen Joni Mitchell. Wer Zugang zu ihrem vielfältigen Schaffen bekommen möchte, kann keinen besseren Ausgangspunkt wie „Blue“ finden.


Zum Reinhören


Titelbild: (c) Radio Canada, Bearbeitung: Felix Kozubek

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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