Türöffner
Es gibt so Lebensphasen. Damals, als ich gerade mal die Single-CDs von „Captain Hollywood Project“ und „Leila K“ losgeworden war, ist Metallica in mein Leben geplatzt. Es war im Bus zur Schule. Das Riff von „Sad But True“ wurde mir damals so lautstark um die Ohren gehauen, dass ich augenblicklich wusste, dass sich da gerade eine neue Hörwelt für mich erschlossen hatte. Dass das musikalische Repertoire dieser Band ebenfalls sehr eingeschränkt ist, war mir damals noch ganz und gar nicht bewusst. Im Gegenteil. Diese Musik versprach Rebellion, Ausbruch und eine ganz neue Ton- und Musiksprache.
Jahre später, ich war gerade in Metal-, Indie- und sonstige Kontexte vertieft, gab es abermals ein solches „Erweckungserlebnis“. Ich war bereits älter und suchte weniger nach dem Soundtrack für Rebellion und Bier trinken, sondern nach musikalischer Innovation und einem erweiterten Harmonien- und Akkorde-Repertoire. Ich hätte es damals natürlich nicht so formuliert. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich es Langweile genannt, die nicht näher bestimmbar ist aber sich dennoch gnadenlos breit machte und meinen Musikgenuss zu zerstören drohte.
Im Heute und rückblickend ist klar, dass es daran lag, dass zu viele Bands und Musikerinnen und Musiker aus dem gleichen Fundus an Möglichkeiten schöpften. Die Differenzen waren einer Marktlogik und dem puren Marketing geschuldet und somit reine Staffage. Zugrunde lag allem, wenn man es runter bricht, der eingeschränkte Möglichkeitsraum der „Popmusik“.
In exakt diesem Zeitraum der Langweile und des Überdrusses entdeckte ich „Initiate“ der Nels Cline Singers. Welche, no na net, vom Gitarristen Nels Cline geleitet wurden und werden. Dieser war mir zu diesem Zeitpunkt, es war das Jahr 2010, schon bekannt. Er war damals schon seit mehreren Jahren Gitarrist der Band „Wilco“, die spätestens mit „Sky Blue Sky“ belegt hatten, dass sie dem Pop-Indie-Feld entwachsen waren – oder zumindest entwachsen wollten.
Nels Cline wirkte (noch) wie ein Fremdkörper in der Band, steuerte ausufernde Soli bei und trieb der Band den letzten Funken an Schlampigkeit und Ungenauigkeit aus. Die Platte war umstritten. Für viele war sie eine Enttäuschung. Auch, weil der „Avantgarde-Gitarrist“ Nels Cline unter seinen Möglichkeiten blieb. So glaubte es zumindest ein sehr bekanntes amerikanisches Online-Magazin.
Horizont-Erweiterung
Die ersten Töne von „Into It“ auf „Inititate“ waren für mich im Jahr 2010 ein amorphes Klangmeer, das mich zwar faszinierte, das ich aber nicht zuordnen konnte. Mit dem darauf folgenden „Floored“ konnte ich schon mehr anfangen. Ich hatte bis dahin noch nie einen Gitarristen gehört, der so gut mit Effekten umgehen konnte. Und zwar nicht mit Effekten als bloßen Selbstzweck, sondern mit Effekten als in die Musik bestens integriertes Werkzeug um Klang- und Struktur-Grenzen kurzerhand außer Kraft zu setzen.
Im Verlauf der Platte fesselte mich nicht nur der unbändige Groove von einigen Tracks, sondern vor allem die erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten. Nels Cline wilderte in „primitiven“ Noise-Feldern und kannte seinen Free-Jazz zugleich im Schlaf. Seine Songs rockten und waren abgedreht. Waren einfach und in manchen Passagen zum Verzweifeln komplex.
Nels Cline ist, so erfuhr ich später, ein Sonderfall in der Welt des „modernen Jazz“. Nicht nur deshalb, weil viele seiner Projekte, so auch die „Nels Cline Singers“, nur schwer dieser Spielart zuzuordnen sind. Vor allem deshalb, weil er in mehreren Welten zuhausen zu sein schien. In der Welt der Intuition und in der Welt des Erarbeiteten und Erdachten. Er ist, so weiß ich heute, weitestgehend Autodidakt und hat keine maßgebende akademische Ausbildung genossen. Nels Cline ist Kopfmensch und folgt dennoch seinem musikalischen „Hausverstand“ und seinen Instinkten. Er hat sich gut hörbar sehr viel selbst erarbeitet und vertraut dennoch noch darauf, dass ein geiles Riff nun einmal ein geiles Riff und ein geiles Riff ist.
Sagen wir es so: Er ist mittlerweile ein Gitarrist, der viele akademisch ausgebildete Musikerinnen und Musiker locker in die Tasche steckt wenn es um Einfallsreichtum und Innovations-Potential geht. Zugleich ist er aber noch der kleine „Rocker“ von nebenan, den man sich auch wild drauflos jammend in einer Garage in einer amerikanische Vorstadt vorstellen kann.
Fazit
„Initite“ ist ein eindrucksvolles Zeitdokument einer Band, die damals noch nicht das volle Potential erreicht hatte. Die nachfolgenden Platten sollten musikalisch sogar noch breiter aufgestellt und besser und konsequenter ausgeführt sein. Es ist evident, dass sich Nels Cline eine Welt vorstellt, in der Genre-Fragen keine Rolle mehr spielen und so gut wie alles möglich ist – wohlgemerkt ohne dass alles nur mehr eklektisch und beliebig wirkt.
Er sucht den roten Faden wo es bisher keinen gab und findet die Kohärenzen im bisher Inkohärenten und Disparaten. Seinem musikalischen Werdegang ist es wohl zu verdanken, dass bei all dem musikalische Kühnheit auf musikalische Unbekümmertheit trifft. Das ist sein Genie. Und das ist es auch, was „Inititate“ so unverzichtbar macht.
Hier geht es zu der vorhergegangenen Folge von "Plattenzeit".
Zum Reinhören
Titelbild: Peter Purgar, Bearbeitung: Felix Kozubek