J. S. Bach ist notwendiger denn je
Dienstag morgen. Mein Zustand könnte besser sein. Zu viele Termine und zu erledigende Aufgaben sind in meinem Kopf. Zu viele Unsicherheiten. Allein von den gestern gelesenen Texten und rezipierten Informationen, vor allem in den sozialen Netzwerken, schwirrt mir der Kopf. Es gelingt mir nur mehr schwer, die Informationen zu ordnen und nach ihrer Wichtigkeit zu kategorisieren. Alles ist gleichwertig und somit letzten Endes entwertet. Ich finde keine Ordnungskriterien und muss somit akzeptieren, dass alles drunter und drüber geht.
Müsste ich meinen Zustand mit einer Art von Musik beschreiben, würde ich „Noise“ auswählen. Alles überlagert sich. So lange, bis eine Art weißes Rauschen entsteht. Ich erkenne und höre kaum mehr etwas. Ein rauschhaftes Gefühl. Zugleich höre ich alles und verliere mich als einst widerständiges Subjekt darin. Es ist die Verbindung mit dem Rausch, dem Rauschen und den Klängen der Welt, die mich maßlos überfordert. Ich kann mich nicht mehr behaupten. Dumpfheit ersetzt Widerständigkeit.
J.S. Bach ist ein Gegenmittel. Er glaubte an Ordnungen. Nicht nur, weil er gläubig war. Sondern weil ihm Präzision und die Balance in seinen Kompositionen wichtig war. Seine Stücke haben oft Lehrbuchcharakter. Nicht, weil sie abstrakt und bloße Anleitung dazu wären, was möglich ist. Sondern weil sie nach Allgemeingültigkeit, Wahrheit und Exaktheit streben. Sie sind nicht beliebig. Sie lassen sich vom Chaos und dem Rauschen der Welt nicht ablenken. Sie wirken wie in der Kontemplation entstandene Musik-Inseln, die dem Gewirr an Stimmen und der Überzahl der Möglichkeiten Klarheit entgegen setzen.
Die Musik von Bach hat Fokussierung im Sinn. In seinem Spätwerk, zum Beispiel in den „Goldberg Variationen“, kümmert er sich eigentlich um wenig. Er sucht nicht die Zusammenschau aller musikalischen Optionen. Er konzentriert sich lediglich darauf die einleitende „Aria“ zu variieren. Die tatsächliche Methode dieser Variationen erschließt sich nur dem geduldigen und kenntnisreichen Fachmann. Auf den interessierten Hörer überträgt sich aber sehr schnell das Gefühl, dass diese Variationen notwendigerweise genau so sein müssen. So und nicht anders. Bach arbeitet an der Musik und nimmt ihrer Entwicklung jegliche Beliebigkeit.
Bach in den letzten Jahrzehnten
Wenn Bach einer der meisterhaftesten Komponisten überhaupt ist, dann gibt es natürlich auch Meisterschüler. Die Begeisterung für Bach ist in den letzten Jahrzehnten jedenfalls nicht abgebrochen. Vornehmlich faszinierend sind, aus meiner Sicht, die Interpreten, die Bach nicht verkitscht oder sentimental interpretieren. Kühle Zurückhaltung ist entscheidend. Das intellektuelle Erkennen und Verständnis für die Struktur seiner Kompositionen ist zentral.
Zugleich darf der Lehrbuchcharakter seiner Werke ernst genommen werden. Die Unterschiede, zum Beispiel, zwischen den Interpretationen von Glenn Gould und Mahan Esfahani sind signifikant. Nicht nur, dass Gould die „Goldberg Variationen“ am Klavier spielte und Esfahani am Cembalo, auch in Sachen Tempo und Betonungen liegen Welten zwischen den Interpretationen.
Beide nehmen diesem Werk ihre Selbstverständlichkeit und finden neue Selbstverständlichkeiten. Gould spielte es am Beginn seiner Karriere pianistisch schnell, während er es Jahrzehnte später deutlich langsamer anlegte. Es liegt ihm nicht mehr an der Virtuosität, sondern daran, jeden Ton zu ergründen und für sich zu vereinnahmen. Er kommt Bach damit so nahe wie kaum jemand anderer – und zugleich ist es eine gewagte Auslegung mit einer ganz persönlichen Note.
Esfahani hingegen lässt die „Goldberg Variationen“ stocken, stolpern, straucheln. Fast so als wolle er suggerieren, dass er in ihnen etwas gefunden hat, das bisher übersehen wurde. Fast so als wolle er behaupten, dass die Stücke hier verlötet sind und Wendepunkte betont werden müssten. Man hört alles neu, wie zum ersten Mal. Eines der größten Meisterwerke der barocken Variationskunst ist somit ganz im Heute angekommen. Es gibt Brüche und Unsicherheiten darin. Dennoch bleibt die Musik von Bach eine Insel, die sich hermetisch den Wirrnissen der Welt entgegen stellt.
Der Musiker Chris Thile wiederum interpretiert Bach auf ganz andere Weise. Sogar mit einem Instrument, das im Klang-Kosmos von Bach keine Rolle spielte: Die Mandoline. Thile ist der Prototyp eines durch und durch zeitgenössischen Virtuosen. Er ist ein informierter Künstler, der Genre-Grenzen nicht akzeptiert. Er ist Bandleader der Folk-Pop-Jazz-Prog-Band „Punch Brothers“. Außerdem spielt er in diversen Bluegrass-Projekten.
Das führt dazu, dass seine Bach-Interpretationen nicht die „reine Lehre“ verkörpern. Bach-Kenner und Apologeten der richtigen Interpretation könnten ihm einen Strick daraus drehen und haben das auch schon getan. In seinen Auslegungen glaubt man genauso seine Leidenschaft für Bluegrass herauszuhören als auch seine tiefe Leidenschaft für J. S. Bach selbst. Bei Thile ist Bach nicht mehr von anderen Musikströmungen isoliert. Thile belegt nicht nur, dass Bach Einfluss auf verschiedenste Musikrichtungen hatte, sondern dass sich Bach öffnen und „anschlussfähig“ machen lässt. Das gelingt ihm aber nicht mittels Verflachung oder Vereinfachung, sondern mit Hilfe einer umgehenden Beschäftigung mit seinem Werk.
Auch die Pianisten-Legende Martha Argerich hat sich in ihrer lange Karriere mit Bach beschäftigt, wenngleich er für sie, zumindest quantitativ in Bezug auf ihre Veröffentlichungen, eine marginale Rolle spielt. Im Jahr 1980 erschien jedoch eine maßgebliche Bach-Einspielung von ihr. Obwohl vornehmlich für ihre Chopin-Einspielungen berühmt, legte sie auf ihrer Bach-CD einen unsentimentalen, klaren und unglaublich berührenden Bach vor. Ihr Anschlag ist präzise, ihre musikalische Intelligenz nahezu atemberaubend.
Nicht vergessen werden darf der große Pianist András Schiff , der 2012 eine Gesamt-Einspielung von „Das wohltemperierte Clavier“ vorgelegt hat. Er spielte dieses mit einer solchen „Trockenheit“, mit so wenig Pedal und so wenig Kitsch, dass diese Kompositionen von Bach mit geradezu plastischer Deutlichkeit vor einem steht. Seine Einspielung ist weniger ostentativ und persönlich wie die von Glenn Gould. Es scheint, als wolle er mit seiner Musikalität Bach wieder freilegen und erkennbar machen. Nicht er als Person will sich einschreiben, aber seine Person möchte einen Bach vorlegen, wie er ursprünglich gemeint war.
Fazit
Es ist bemerkenswert, wie modern die Musik von J. S. Bach geblieben ist. Wie eigen und eigenständig sie klingt. Wie sehr sie berührt, obwohl sie im Grunde kühl und analytisch erdacht wurde. Im Heute gewinnt sie ihre emotionale Tiefe wohl vor allem dadurch, dass sie auf verlorenem Posten steht. Der klare und auf Präzision bedachte Denker und Komponist wird immer weniger verstanden. Es ist vergeblich, harte Arbeit in komplexe Kompositionen zu stecken, weil die Bereitschaft diese auch anzuhören sinkt. Die Musik von Bach kündet von einer untergegangenen Welt, die so wohl nie existiert hat. Sie erzählt von einer Ordnung, die es so nie gegeben hat. Das macht ihr immenses utopische Potential aus. Das macht sie zukunftsfähig – auch wenn womöglich alles umsonst ist.
Hier geht es zu der vorherigen Folge von "Plattenzeit".
Zum Reinhören
Titelbild: (c) Matt Dine , Bearbeitung: Felix Kozubek