Der „Westen“ und der Exotismus
Alles begann mit dem westlichen Kolonialismus. Und auch in Zeiten des Post-Kolonialismus diskutieren wir noch darüber. Ganze kulturwissenschaftliche Theorie-Zweige beschäftigen sich damit, dass sich vor allem der weiße Mann immer noch ganz schön arrogant gegenüber ehemals kolonialisierten Gebieten und Ländern verhält.
Der „Westen“ blickt auf den „Nicht-Westen“, definiert und entwirft ihn aus seiner eigenen, behaupteten Überlegenheit heraus. Eine Strategie um den „Nicht-Westen“ klein und ungefährlich zu halten ist dabei der Exotismus und die Exotisierung. Das Fremde ist zwar spannend und womöglich gar inspirierend, aber dem Westen doch, wenn wir ehrlich sind, meilenweit unterlegen.
Sind wir erst einmal in die Falle des Exotismus getappt, ist es vor allem schwierig, tatsächlich richtige Aussagen über andere Kulturräume zu treffen. Wir arbeiten mit Klischees, Vorurteilen und vermittelten Bildern. Das betrifft nicht nur ganze Länder, deren Eigenschaften und Mentalität wir in schillernden Träumen imaginieren, sondern auch deren Musik. Besonders verbunden mit der Imagination eines geheimnisvollen Indiens ist die Sitar.
Diese dient in unseren Vorstellung vor allem der Untermalung von stundenlangen Tantra-Sex-Sessions und dem gemütlichen Rauchen von lustig riechenden Zigaretten. Auch die eine oder andere tagelang andauernde Goa-Tagung darf nicht wirklich ohne Sitar auskommen.
Diese imaginierte, wunderbar exotische Musik nennt man dann auch gerne „Weltmusik“. Auch die Musikerin Anoushka Shankar könnte man leichtfertig in diesem Zusammenhang verorten. In Interviews wehrt sie sich aber vehement gegen solche Zuschreibungen. In einem Interview mit der Zeit meint sie: „´Weltmusik´? Was für ein Blödsinn! Was soll das sein? In Londoner Plattenläden sortieren sie ins Weltmusik-Fach schon mal Chansons von Gainsbourg neben bayerische Blaskapellen. Meine Platten stehen da dann auch gerne. Das ist vor allem frustrierend. Weltmusik bedeutet nichts!“
Damit spricht sie dem Begriff „Weltmusik“ nicht die Funktion ab, sondern die Eigenschaft, dass dieser etwas über die Musik an sich aussagen würde. Die Funktion ist nur allzu deutlich. „Weltmusik“ soll Musik kategorisieren, die aus „westlicher“ Sicht „nicht-westlich“ ist oder zumindest in diesem Kontext eine marginale oder marginalisierte Rolle spielt. Der Begriff schafft Dichotomien und es damit nicht, musikimmanente Kriterien festzulegen, was Weltmusik nun ist und was nicht.
Die Weltbürgerin Anoushka Shankar und die Weltmusik
Anoushka Shankar ist zweifellos eine Weltbürgerin. Sie wurde in London geboren, zog aber mit ihren Eltern bereits mit sieben Jahren nach San Diego. Indien ist sie außerdem stets, vor allem natürlich wegen ihrem Vater, verbunden geblieben. Heute lebt sie mit ihrer Familie wieder in London.
Wenig verwunderlich, dass gerade eine Person wie sie den Begriff der „Weltmusik“ und die damit verbundenen Implikationen zurückweist. Neben all den bisher genannten Problemen dieses Begriffes hat dieser nämlich auch die Eigenschaft, die jeweilige Musik zu vereinheitlichen und ihr eine Art Authentizität abzuverlangen. Die Musik von Anoushka Shankar verfolgt ein anderes Ziel. Es geht ihr nicht um die vermeintliche Authentizität der „ursprünglichen“ indischen Folklore, sondern um Anschlussmöglichkeiten und Verknüpfungspunkte, die zu einer Form der Hybridisierung führen.
Ihre Musik ist weder „indisch-exotisch“ noch „westlich“. Sie ist Sowohl-Als-Auch. Sie lässt sich nicht verorten. Sie ist nicht mit einem bestimmten Ort verbunden. Sie schafft neue Orte. Sie ist beweglich und veränderlich.
Das lässt sich bereits an den Titeln ihrer letzten Alben ablesen. 2013 veröffentlichte sie „Traveller“, 2015 „Home“ und aktuell „Land of Gold“. Bei Letzterem thematisiert sie auch die gegenwärtige Migration und Fluchtbewegung von unzähligen Menschen. Als Mutter berühren sie diese Geschichten ganz offenbar besonders stark. Sie versucht als Mutter ihren Kindern Schutz zu bieten, während in der Welt abertausende Menschen schutzlos und ausgeliefert ihr Leben aufs Spiel setzen, um in das „Land of Gold“ zu gelangen.
Im Gegensatz zum weit traditionelleren und virtuoseren „Home“ ist „Land of Gold“ hochgradig eingängig. Man könnte auch „poppig“ dazu sagen. Der Klang ist warm, die Lieder zugänglich. Trotz des komplexen und schwierigen Themas gibt es so gut wie keine irritierenden oder dissonanten Stellen auf diesem Album. Stellenweise wird die Platte gar tanzbar.
Es ist nur allzu hörbar. Diese Platte will zwar diese Themen auf den Tisch bringen. Sie will aber vor allem Hoffnung geben. Sie möchte auf der musikalischen Ebene vorführen, wie wir alle voneinander profitieren könnten, wenn wir uns auf andere vermeintlich „fremde“ und „bedrohliche“ Kulturen und Menschen einlassen würden. Das „Land of Gold“ beginnt dort, wo wir miteinander in Dialog treten und Grenzen im Kopf außer Kraft setzen.
Wir können also viel von Anoushka Shankar und deren Musik lernen. Ihre Musik ist der perfekte Soundtrack für die globalisierte, hybride und sich ständig verändernde Welt. Aber nicht nur das. Leichtfüßig und spielerisch schafft sie es außerdem, wie es einer Virtuosin ihres Ranges entspricht, zu beweisen, dass eine Sitar aus klanglicher und musikalischer Sicht zu so viel mehr in der Lage ist, als nur Tantra-Sex zu untermalen. Ihre Musik „riecht“ nie nach Räucherstäbchen, sondern stets nach Abenteuer, Experiment und einer besseren Welt, die plötzlich in greifbare Nähe gerückt ist.
Zum Reinhören
Titelbild: (c) Jamie-James Medina