Der Komponist Christian Reimeir wuchs in Steinach am Brenner auf. 2008 verließ er Tirol und lebt seither in Wien. Obwohl sein kompositorisches Schaffen gemeinhin der zeitgenössischen Musik zugerechnet wird, hat Reimeir einen personalen Stil entwickelt, der mit oftmals gängigen Konventionen der zeitgenössischen Avantgarde bricht. Im AFEU-Interview spricht er über einschneidende Erlebnisse, dem emotionalen Gehalt seiner Musik und seine Idealvorstellung einer zeitgenössischen Komposition.
Stationen
AFEU: Christian, kannst du mir bitte kurz skizzieren, wie dein musikalisches Leben bisher verlief – von den Anfängen bis in die Gegenwart, in der wir hier sitzen.
Christian Reimeir: Das Leben an sich begann schon viel früher. Meine musikalisches Leben und meine musikalische Zeit aber erst mit 17 oder 18 Jahren. Ich wuchs in einem Dorf in Tirol auf und ging in die Volksschule und Hauptschule. Ich komme aus keinem musikalischen Haushalt und war eigentlich stets eher technisch interessiert. Ich habe kein Instrument gelernt und besuchte die HTL mit Schwerpunkt auf Nachrichtentechnik.
In der dritten Klasse der HTL war mein Weg bereits vorgezeichnet. Ich interessierte mich sehr für Relativitätstheorie. Mich interessierte Physik. Darum studierte ich Mathematik und Physik. Parallel während ich noch in die HTL ging gab es aber schon ein einschneidendes Erlebnis. Es war wie wenn man einen Lichtschalter einschaltet. Ich hörte die „Mondscheinsonate“ von Beethoven. Damals kannte ich diese nicht. Ich war in einem CD-Laden und suchte ein Lied auf einer CD. Zufälligerweise kam ich auf die Mondscheinsonate. Das war der Beginn von allem.
Da muss ich vorausschicken, dass mich bei meiner Musik in erster Linie außermusikalische Erlebnisse und Erfahrungen prägen und beeinflussen. Das können Frauen sein, interessante Erlebnisse, Ausgehen oder Freundschaften.
Wenig später lieh ich mir von einem Kollegen einen Synthesizer. Zuhause bei ihm schalteten wir diesen ein. Ich spielte irgendetwas. Er war überrascht und fragte, woher ich das könne. Ich erwiderte mit der Frage: „Ja kannst du das nicht?“. Danach fing ich an mir autodidaktisch Stücke und Kompositionen beizubringen. Ich spielte vor allem Beethoven und Bach nach Gehör. Außerdem komponierte ich immer schon, obwohl ich noch gar nicht genau wusste, was ich da überhaupt tue. Ich kannte keine Musiktheorie und wusste nicht einmal, was Dur und Moll ist.
Später experimentierte ich mit Computern, weil mir Noten nicht besonders zusagten. Damit spielte ich schon komplexere Werke mit mehreren verschiedenen Stimmen ein.
Mit meiner ersten Symphonie in Dis-Moll ging ich zum Konservatorium. Ich begann am Konservatorium in Innsbruck zu studieren – obwohl ich die Aufnahmeprüfung nicht schaffte. Sie haben aber erkannt, dass ein musikalisch-kreatives Potential da ist und man die Musiktheorie nachlernen kann. Ich wurde also wegen meinen kompositorischen Fähigkeiten aufgenommen. Damals dauerte die Ausbildung noch 6 Jahre. Mein Professor half mir sehr weiter. Er zeigte mir, wenn ich ihm Kompositionen vorlegte, was auch noch möglich wäre und welche Wege man andenken könnte.
2008 ginge ich nach Wien. Wien habe ich immer schon als die Musikstadt der Welt wahrgenommen und das nicht als kitschig empfunden. Ich wollte nur ein Jahr bleiben, bin aber dann dort geblieben. Die ersten Monate in Wien schaute ich mir die ganzen Wohnstätten der von mir verehrten Komponisten an. Nach dem ersten Jahr in Wien wurde mir zunehmend bewusst, wie vielfältig Wien im Heute ist. Das genieße ich heute immer noch.
AFEU: Wie genau hat dich Wien musikalisch beeinflusst und geprägt?
Reimeir: Da muss ich vorausschicken, dass mich bei meiner Musik in erster Linie außermusikalische Erlebnisse und Erfahrungen prägen und beeinflussen. Das können Frauen sein, interessante Erlebnisse, Ausgehen oder Freundschaften. Wien war in dieser Hinsicht eine regelrechte Öffnung. Natürlich haben mich in Wien aber auch Konzerte und Opern inspiriert. Nach einem solchen Konzert möchte man immer sofort selbst etwas schreiben.
Kompositionen und Emotionen
AFEU: Ist das auch eine Gefahr, wenn man nicht allzu viel übernehmen will, sondern einen personalen Stil entwickeln möchte? Muss man sich zwingen nach solchen Erlebnissen nicht sofort selbst komponieren zu wollen?
Reimeir: Meistens geht es dann eh nicht sofort (lacht). Wenn ich außerdem ein intensives Erlebnis hatte, das mich lange Zeit, ob positiv oder negativ, beschäftigt, bin ich ohnehin fast wie gelähmt. Später kann man sich dieses Erlebnis und Ereignis wieder herholen. Man ist weniger involviert. Dann lässt es sich musikalisch verarbeiten und ausdrücken. Der Urgrund für mich Musik zu schreiben ist, dass meine Emotionen artikuliert werden müssen. Sie müssen raus.
Als Zuhörer erscheint es mir bei manch zeitgenössischer Komposition so, als gingen die Komponisten einkaufen.
Daraus resultiert auch ein Problem. Man möchte mich ja oft in die Schublade „zeitgenössische Musik“ einordnen. Ich tue mir aber oftmals schwer mit der zeitgenössischen Avantgarde. Ich tue mir vor allem schwer, mit diesen musikalischen Mitteln meine Emotionen auszudrücken.
AFEU: Ist es dir aus diesem Grund wichtig, so manch avantgardistische „Konvention“ zu umgehen?
Reimeir: Egal wie avantgardistisch oder modern eine Spieltechnik ist, die ich verwende: Es muss immer einen tiefgehenden musikalischen Grund für die jeweilige Verwendung geben. Sonst benutze ich sie nicht.
Dazu habe ich ein Bild im Kopf. Dieses trifft auf einiges an Zeitgenössischem zu. Als Zuhörer erscheint es mir bei manch zeitgenössischer Komposition so, als gingen die Komponisten einkaufen. Mit einem Einkaufswagen. An der Wand hängen diese ganzen „neuen“ Klangformen, die man hernehmen kann. Man nimmt dieses, man nimmt jenes, wirft es in den Einkaufswagen. Dann ist man bei der Kassa – und das Stück ist fertig. Das Stückt existiert als Summe seiner Klangformen und Klanggeräusche.
AFEU: Es ist ein Werkstück mit Selbstzweck. Ich zeige, was ich alles zusammenbringen kann und was alles möglich ist.
Reimeir: Ja, das gilt auch für die Instrumentalisten. Diese sind ja meist wahnsinnig gute Musiker. Für mich muss allerdings immer eine emotionale Aussage dahinter stehen. Wenn diese da ist, dann sind auch zeitgenössische Effekte gut.
Kopf und Herz
AFEU: Kann man mit solchen emotionalen Aussagen auch wieder verstärkt zu einem breiteren Publikum vordringen?
Reimeir: In dieser Hinsicht bin ich womöglich ein wenig radikal. Ich komponiere nicht für das Publikum. Applaus, Erfolg und Geld existieren auf einer Ebene, die durchaus angenehm ist. Aber das hat nichts mit meinem Kompositionsgedanken zu tun. Ich denke keine Sekunde daran, wem es wann, wo, und wie gefallen könnte.
Zu viel Emotion überschwemmt alles. Es braucht die Ausgewogenheit von Kopf und Herz.
Bei meinen Kompositionen ist der Zusammenhang von Kopf und Herz sehr wichtig. Ich habe einen rationalen Zugang, aber zugleich auch ein Faible für das Fantastische. Beim Komponieren lässt sich das hervorragend vereinen.
Es ist wie bei einem Flussbett. Ich komponiere ja freitonal, nicht in Dur oder Moll. Ich baue mir also für jede Komposition ein freitonales Konzept. Das ist für mich das Korsett. Das ist somit in diesem Bild das Flussbett. Ich sage, wann es nach links oder nach rechts geht. Das ist der Kopf. Und dann fülle ich das alles mit Emotion. Das ist dann das Wasser. Wenn zu wenig Wasser drinnen ist, dann ebbt alles ab. Wenn zu viel Wasser drin ist, kann alles übergehen. Dann erkennt man das Konstrukt nicht mehr. Zu viel Emotion überschwemmt alles. Es braucht die Ausgewogenheit von Kopf und Herz.
Es ließe sich ja aus fast jedem Einfall ein Stück schreiben. Aber das reicht mir meist nicht. Ich brauche eine essentielle Idee. Das können drei oder vier Töne sein. Erst dann kann ich daraus ein großes Haus bauen. Das spüre ich einfach.
Es geht mir um einen „Emotions-Transport“. Was fühle ich im Innersten und wie schaffe ich dieses im Musikstück zu verwirklichen? Es ist wie bei einem Klein-LKW mit einer Ladefläche. Hinten packe ich, in Kisten, meine Emotionen drauf. Dann fährt der LKW los. Irgendwann kommt dieser an. Und je nachdem wie steinig und holprig der Weg war hat er die Hälfte der Kisten verloren oder eben noch alle drauf. Wenn ich es also nicht schaffe, die Emotionen so in meine Musik zu packen und zu verpacken, dass sie beim Hörer ankommen, dann ist die Straße noch holprig. Das ist ein Prozess, den ich für mich stetig verbessern will.
AFEU: Danke für das Gespräch!
Titelbild: (c) Jana Madzigon, Sonstige Bilder: Andras Borgo