Die Partitur und der Leser
Immer weniger Menschen können Partituren lesen. Die Kompositionen, Werke und Opern von Mozart liegen schon Jahrhunderte zurück. Sie sind uns fremd und vertraut zugleich. Wir hören diese Werke immer wieder. Fast niemand aber liest oder interpretiert sie. Wir lassen lesen und interpretieren.
Das setzt ein Vertrauensverhältnis voraus. Der Dirigent und künstlerische Leiter hat das Werk für uns zu lesen. Er erschließt es sich, damit es sich für uns erschließt. Was aber, wenn dieser Leser schlampig liest? Was wenn er die tiefe, kenntnisreiche Lektüre gar nicht beherrscht, sondern nur Konventionen und andere vertraute Lesarten übernimmt?
Ein besonders detailverliebter und kompetenter Leser ist der deutsche Dirigent Johannes Klumpp. Er liebt es, wie Mozart Szenen musikalisch gestaltet. Wie die Stimmungen in diesen immer wieder kippen. Mozart ist nicht der Komponist, der lange an Stimmungen festhält und in Trauer oder Glück schwelgt. Seine Figuren haben, musikalisch bis ins Detail ausgeleuchtet, mehrere Ebenen. Von todernst bis ironisch ist es bei ihm oft nur ein kleiner Schritt. Mag die Handlung des „Figaro“ aus heutiger Sicht stellenweise trivial sein, so nimmt Mozart alles ernst und lässt keine Schlampigkeit oder Ungenauigkeit zu.
Das wiederum heißt nicht, dass seine Figuren selbst die Szenen ernst nehmen. Susanna, wunderbar und aberwitzig verkörpert von Susanne Langbein, zeigt dies vortrefflich. Ihre Stimme möchte man als Meta-Kommentar verstehen. Die Figur ist tief in die Machenschaften des damaligen Rokoko-Welttheaters verwickelt und in die Intrigen dieser Zeit verwoben. In der Lesart von Klumpp aber kommentiert sie diese Szenen zugleich. Sie ist Inbegriff von aberwitzigem Spät-Barock und zugleich überspitzt sie so sehr, dass sie auch als Abgesang auf diesen verstanden werden kann.
Das Werk und der Schlüssel
Johannes Klumpp glaubt nicht, das wird im Gespräch nach der Aufführung klar, dass ein Dirigent nur Charisma, Emotionalität und Führungsgabe braucht. Vor allem spricht er von den „Arschstunden“. Von der Zeit, in der man zuhause oder in sonstigen geschlossenen Räumen ganz alleine sitzt und die Partitur liest. Diese genau studiert. Briefwechsel aus der Zeit analyisert und sich somit insgesamt Zeithorizonte erschließt, in denen Mozart damals komponierte.
Er suche den Schlüssel, meint Klumpp. Den Schlüssel, der ihm das Werk aufschließe und es ihm ermögliche, es sich vollständig zu erschließen. Das kann eine ganz bestimmte, von gängigen Meinungen abweichende Betonung eines Taktes sein. Das können Aussagen vom Komponisten zu seinem Werk sein. Das können seine Lehrer und Mentoren sein.
Das sind Augenblicke, in denen die Person Johannes Klumpp vor dem Werk steht und die darin enthaltene Welt betreten kann. Man hat den Eindruck, dass er zwar detailversessen und werkgetreu, aber nicht demütig vor dem Werk Mozarts steht. Auch mit dem „Figaro“ geht er nicht demütig um. Er erschafft ihn bei seiner Aufführung in Innsbruck beschwingter und beseelter als man ihn gemeinhin kennt. Das „Tiroler Symphonieorchester Innsbruck“ folgt ihm bereitwillig. Sein Mozart solle grooven, meint Klumpp. Das gelingt ihm vortrefflich. Weit weg sind die mittelmäßigen, leicht verstaubten und dezente spießigen Mozart-Aufführungen, die man in Österreich und darüber hinaus immer wieder mal erleben darf. Sein Mozart ist entstaubt und frisch.
Es ist deutlich, dass er auch Neurer wie Teodor Currentzis oder Patricia Kopatchninskaja mag und schätzt. Ersteren wirft man ja auch zum Teil bloße Inszenierung und zu viel Show vor. Klumpp hingegen meint, dass Currentzis ein guter Leser sei und seine Einspielungen eindrucksvoll. Auch für den subjektiven Zugang von Kopatchinskaja hat er Verständnis. Man müsse, nach getaner Arbeit der detaillierten Studie der Partituren, die Musik so wirken lassen, als enstünde sie gerade eben. Musik müsse feurig sein.
Wir reden über Drachen, kreative Tiere und wie sich Kopatchinskaja und Barbara Hannigan vorstellen, eben nicht-menschlich zu sein oder es mit übermenschlichen Herausforderungen aufzunehmen, wenn sie singen, spielen oder dirgieren. Es handelt sich dabei um Auto-Suggesition. Um den Versuch, ganz im Moment und ganz präsent zu sein, auch bei zum Teil aberwitziger Komplexität der Werke. Wer im Live-Moment nachdenkt, verliert den Groove und die Gegenwärtigkeit.
Der „Figaro“ und Innsbruck
Das „Ich“, das schwierige Partituren gelernt und sich diese in monatelanger Arbeit erschlossen hat, steht nicht im Zentrum der Aufführungen. Es muss verschwinden. Das Werk steht in seinem „So-Sein“ da. Der Dirigent und musikalische Leiter ist „nur“ der „Leser“, der seine Leseart präsentiert und diese als zwingend und logisch zur Aufführung bringt und vorlegt. Dabei geht es nicht um Ego und Inszenierungsstrategie, sondern um Genauigkeit, die der Aufführung in der Lese- und Probenarbeit vorangeht.
Ein Bild drängt sich auf. Der Dirigent und Musiker Klumpp steht fragend vor einer Partitur. Er hat kenntnisreich andere Inszenierungen und Lesarten im Kopf und im Ohr. Es wirkt als denke er sie mit, dränge sie aber zurück zugunsten der exakten und detaillierten Lektüre.
Dennoch können andere Lesarten den bereits beschriebenen Schlüssel zum Zugang des Werkes anbieten. Klumpp nimmt dieser aber nur als Schlüssel, nicht als Konzept, das seine Lesart steuert, lenkt und letztlich ablenkt. Dieser Schlüssel ist für ihn sogar Anlass, noch genauer und detaillierter zu lesen, weil er jetzt endlich direkten Zugang zum Werk und zu dessen Welt gewonnen hat.
Der gegenwärtige Johannes Klumpp bewegt sich in diesem Werk. Er schaut sich in der Welt um. Neugierig, fragend, kompetent, sicher. Er bewegt sich aber gezielt, will nicht alles über den Haufen schmeißen oder kaputtschlagen. Er will manches wieder zum Vorschein bringen. Manches mit seiner Musikalität und Persönlichkeit wieder stärker betonen. Sodann beginnt das Werk zu strahlen. Diese Strahlen ergibt sich dann, wenn Kenntnis der Werk-Intention, Musikalität des Dirigenten und der beteiligten Musiker und Persönlichkeit zusammentreffen.
Der „Figaro“ in Innsbruck strahlte tatsächlich. Auf unaufgeregte, präzise Weise. Klumpp ist kein Bilderstürmer. Aber er ist ein hervorrangeder Leser, der Details exakt ausleuchtet und auf nicht-spießige und eben leise und charmant „groovende“ Weise auf die Bühne bringt.
Fazit
Bei einem Leser wie Johannes Klumpp lässt man sich nur allzu gerne ein Werk „vorlesen“ und entschlüsselt vorlegen. Seine Leseweisen sind zwingend, aber nie aufrdinglich oder gar pathetisch-apodiktisch. Es sind stille, von allem Ego-Gehabe befreite Interpretationen, die in ihrer Klarheit und Konzisheit Freude bereiten und vor Musikalität geradezu bersten. Ein grandioser Abend. Ein Abend, der bleibt? Ja, ganz sicher.
Titelbild: (c) Tiroler Landestheater
hat ausser Herrn klumpp hier noch jemand mitgewirkt? z.B. die Titelfigur? oder hat her klumpp Ihnen hier etwas zuviel vorgelesen?