Das Konzept-Album ist tot, es lebe das Konzept-Album!
Gar ein bisserl arg aufgeblasen war sie irgendwann, die Musik der späten 70er-Jahre. Nicht enden wollende Keyboard-Soli und, Gott bewahre, Schlagzeug-Soli waren der Gipfel dieser Entwicklung. Die Dreistigkeit was an sich wohlgesonnenen Hörerinnen und Hörern zugemutet wurde kannte ingesamt keine Grenzen.
Der Markt wurde mit gar Konzept-Alben überschwemmt, die wenig schmeichelhaft und salopp von Zeit zu Zeit auch“Rock-Oper“ genannt wurden. Zu gut ausgebildete Musiker gingen aufs Ganze und bürdeten der Musik die Bedeutungsschwere eines Entwicklungsromans auf. Da konnte man den jeweiligen Protagonisten auf ihrer inneren und äußeren Reise folgen, ihre Entwicklung miterleben und nach dem Hörgenuss von mindestens 100 Minuten Musik völlig erschöpft im Ohrensessel einschlafen.
Kein Wunder also, dass das so manchem zu bürgerlich, zu elitär und insgesamt zu überkandidelt war. Wenig später wurde die Welt dann mit der vielgepriesenen DIY-Ästhetik überschwemmt. Plötzlich war jeder Musiker, der sich die Haare grün, blau oder sonstwie färben konnte und sich gestern eine Gitarre gekauft hatte. Der Punk als gewichtige und bis heute nachhallende Zäsur war geboren. Die Würze lag in der Kürze der Songs. Intensität wurde nicht mehr durch endlose und ermüdende Akkord-Variationen und ausufernde Gruppen-Jams erzeugt, sondern durch Simplizität und Direktheit.
Die Entwicklung der Musik war ziemlich sicher niemals chronologisch. So sehr wie im Hier und Jetzt überlagerten sich die Schichten der Spielstrategien, Möglichkeiten und Genres aber noch nie. Alles ist möglich. Alles ist gleichberechtigt. Natürlich wird nicht jede Platte gleich stark bemerkt und rezipiert. Was aber grundsätzlich wurscht ist, da ohnehin jede auch noch so abwegige Nischen-Musik in den Weiten des weltweiten Netztes besprochen wird. Wer mag, kann sich die Informationen zu seiner obskuren Lieblings-Band holen und stets auf dem Laufenden sein, was in der eigenen Mini-Nische so alles passiert. Eine schöne Parallel-Welt.
Grundsätzlich existiert der Progressive-Rock in einer solchen Parallel-Welt. Vom Mainstream-Publikum wird er nur von Zeit zu Zeit bemerkt. In diesem Jahr war das zum Beispiel bei „The Astonishing“ von Dream Theater der Fall. Man bekam es dabei nicht nur mit Prog-Rock zu tun, sondern mit der eigentlich totgesagten Idee des Konzept-Albums. Über zwei CDs verteilt wurde ausgiebig gefrickelt, weit ausgeholt und erzählt, wie wichtig die Magie der Musik in einer dytopischen Zukunft in den USA sein könnte. Trotz enormer Musikalität und vor allem Virtuosität scheiterten Dream Theater kläglich. Erstaunlich war hier wenig, eher schon unhörbar, unfassbar aufgeblasen und insgesamt gezwungen und aufgesetzt. Die Magie der Musik wurde auf die Magie der sich in Leerlauf verirrenden Virtuosität eingedampft.
Just der ehemalige Schlagzeuger von Dream Theater, Mike Portnoy, hat sich bereits vor Jahren mit Neal Morse zusammengetan. Er selbst redet in den höchsten Tönen über das Endergebnis, das den Titel „The Similitude of a Dream“ trägt. Das Album seiner Karriere sei es. Auf Augenhöhe mit „Tommy“ von The Who oder „The Wall“ von Pink Floyd. Die Erwartungshaltungen wurden dadurch nicht gerade geschmälert. Zu allem Überfluss trägt auch noch Paul Whitehead ein Bild im Booklet bei. Dieser entwarf bereits legendäre Cover-Bilder für eine ehemalige und immer noch vergötterten Prog-Rock-Band mit dem Namen Genesis. Die Zeichen stehen also nicht nur auf Retro, sondern auf Weiterführung einer etwas in Vergessenheit geratenen Tradition. Selbstbewusst reiht man sich in den Traditionsstrang der Prog-Rock-Meisterwerke ein. So etwas kann eigentlich nur schief gehen.
Wer allerdings der Neal Morse Band beim peinlichen Scheitern an übergroßen Konzepten und Ansprüchen zuhören will, wird von dieser Platte bitter enttäuscht sein. Denn die Band kann mit den selbst auferlegten Ansprüchen und den geschürten Erwartungshaltungen umgehen. Dabei wird gar nicht mit Virtuosität, Pathos und dem unbedingten Willen etwas Großes zu erzählen gespart. Im Gegensatz zu Dream Theater gelingen aber tatsächliche Songs, großartige Melodien und Instrumental-Passagen, die eine absolut glasklare Funktion in der Gesamt-Narration einnehmen.
Gott, Satan – und Neal Morse
Lose ist die Erzählung dieses mehr als 100-Minuten umfassenden Mammut-Werkes an „The Pilgrim´s Process“ von John Bunyan angelehnt. Dieses Werk hat den gläubigen Christen Neal Morse offenbar angestachelt aufs Ganze zu gehen. Eine irrwitzige Reise entspinnt sich, in der zuerst nichts und dann alles Sinn macht. Zerstörte Städte werden besucht und wieder verlassen. Der Atem der Engel wird verspürt. Es ist viel die Rede von Segen, Gott und Satan. Eine Nacherzählung ist von vornherein sinnlos und überflüssig. Man muss sich auf die Erzählung einlassen. Und darf keine Angst vor Eskapismus und Gegenwelten haben.
Wie schultert diese Band aber dieses Projekt, das anderen wohl vollständig entglitten und zur Lachnummer verkommen wäre? Mit ganz viel Talent, gekonnter Zurückhaltung und grandiosen Songs. Wenn schon gefrickelt wird, dann im Dienst der Sache. Wenn schon geschmalzt und geknödelt wird, dann deshalb, weil die Engel des Herrn gerade dem Ich-Erzähler begegnen. Wenn schon großzügig Keyboard-Teppiche ausgerollt werden, dann deshalb, weil man gerade einen Blick auf das Paradies erhascht hat.
Nicht zuletzt gelingt das Album aber deshalb so famos, weil zwar mit dem notwendigen Ernst herangegangen wird, aber die Spielfreude nicht zu kurz kommt. Von der mathematischen Präzision und klinischen Sterilität so mancher vergleichbaren Prog-Rock-Platte ist hier nichts zu hören. Der Sound ist warm, erinnert deutlich an die 70er Jahre. Stellenweise ist man sich nicht einmal sicher, ob man hier Prog-Rock hört. Manches klingt nach Classic-Rock. Grenzen verschwimmen. Genre-Klischees werden vermieden. Man findet im Kollektiv zu einer locker-lässigen und doch eindrucksvollen Art des Musizierens.
Eine enorme Leistung, denn so klingt es, als habe es die letzten Jahrzehnte der Verhärtung und Klischee-Werdung des Prog-Rocks gar nicht gegeben. Neal Morse und seine kongeniale Band klingt so, als sei sie einerseits unglaublich informiert über die musikalische Entwicklung der letzten Jahrzehnte und würde anderseits unbefangen einen Neustart versuchen. Das alles führt dazu, dass man Neal Morse tatsächlich gerne folgt, sich auf die Seite der Guten schlägt und dem Satan alles Schlechte wünscht. Was natürlich schändlich weit von der wahren Lehre des Black-Metal entfernt ist. Aber für so grandiose Musik und Musiker macht man gerne eine Ausnahme.
Fazit
Wenn es ein Konzept-Album sein muss, dann dieses. Wer viel Zeit, gute Ohren und eine gehörige Portion Langweile aufgrund des gegenwärtigen Zustandes der Pop-Musik mitbringt, der ist hier goldrichtig. Die Platte wühlt tief in der Vergangenheit, ist aber auch höchst gegenwärtig. Wann war Weltflucht schließlich wichtiger und verständlicher als Heute? Wann waren verbindliche und zeitlose Werte wie zum Beispiel der Ein-Gott-Glaube essentieller als in dieser vermaledeiten und gottlosen Gegenwart? Na eben. Und ja: Die Musik auf diesem Album ist wirklich, wirklich gut. Aber das sagte ich ja bereits. Hört selbst!
Zum Reinhören
Titelbild: (c) Radiant Records, Bearbeitung: Felix Kozubek