„Tori Amos macht mir Angst“
Kufstein, 1993. Es war eine Zeit, in der alle rundherum Slayer hörten. Björk oder Tori Amos zu hören war damals eine ungeheure Provokation. Slayer sangen von Tod, Teufel und dem Bösen schlechthin, Tori Amos beschäftigte sich lieber mit ihrem Innenleben, ihrer lange Zeit unterdrückten Stimme, Kindesmissbrauch und vielem mehr. Dazu sang sie mit einer Stimme, die nur beim ersten Hinhören engelsgleich klang. Diese Frau war vor allem unfassbar selbstbestimmt, unglaublich selbstbewusst und somit der reinste Männerschreck.
Wenn sie kurze Röcke trug war jedem Mann augenblicklich klar, dass das keine eindeutige Aufforderung zur Annäherung oder gar zur Tuchfühlung war. Es war die Aufforderung, verdammt noch mal, diese Person als überaus talentierte Frau zu sehen, die mit ihrer Weiblichkeit so umging wie sie es selbst wollte. Finger und begierige Blicke weg und stattdessen hinhören war die explizite Devise.
In einem schwachen und besoffenen Moment verriet mir damals ein Freund, mit Cannibal Corpse T-Shirt gewandet, dass ihm Tori Amos Angst mache. Regelrechte Panik sah ich in seinen Augen. Er meinte damit wohl auch nicht explizit und ausschließlich Tori Amos. Die ließ sich ja auf Distanz halten. Bei ebendieser ließ sich ja leugnen, dass man zuhause doch heimlich deren Platten hörte.
Er meinte vielmehr diese Art von Frau, die sich so gar nicht auf den Typus Modepüppchen oder Metal-Braut reduzieren ließ. Mit dieser Art Frau ließ sich weder angeben noch konnte man sie in Metal-Kluft aufs nächste Metallica-Konzert schleppen und sie dort als Aufputz zur Schau stellen. Frauen wie Amos waren und sind unberechenbar. Möglicherweise sogar die Art Frau, die mit einem Schluss macht bevor man selbst auf die Idee kommt und schon Tage später nicht mehr trauert, sondern den nächsten Kerl am Start hat. Kurz: Schlimmer als Tod, Teufel und das Böse schlechthin.
Kleine Erdbeben und sonstiger Frauenkram
Die Geschichte der oftmals als hysterisch gebrandmarkten Songwriter-Frauen ist lang. Womöglich kann man Joni Mitchell an den Anfang dieser Geschichte stellen. Spätestens auf „Blue“ wurde sie zur einsamen und leidenden Frau mit Tendenz zur Flucht auf einsame Inseln und an sonderbare Orte. Die Rolle der wartenden und sich nach dem Mann verzehrenden Frau war endgültig vorbei. Eine Frau wie Mitchell brach selbst auf und entwarf ihr Leben nicht um einen Mann herum.
Zu all dem ansonsten Männern vorbehaltenen Einsamkeits-Kram kam auch noch ganz viel Frauen-Zeugs dazu. Schlittschuhlaufen auf zugefrorenen Seen zum Beispiel. Natürlich nicht nur als bloßer Sport, sondern als Metapher dieser Welt auf diese Weise locker-lässig auf dem Eis gleitend zu entfliehen.
Auch auf dem Debüt-Album von Toris Amos mit dem treffenden Titel „Little Earthquakes“ findet sich diese Erweiterung der üblichen Männer-Topoi. Amos übernimmt in gleichem Maße, wie sie neu formuliert und die Themen um eine explizit „weibliche“ Note ergänzt. Bereits der erste Satz des Albums ist ein lyrischer Hammer. „Every finger in the room is pointing at me/ I wanna spit in their faces“. Klar, sie bekommt dann doch noch Angst und tut es nicht. Im weiteren Verlauf sucht sie Erlöser, sieht sich selbst als die Gekreuzigte und vieles mehr. Die übliche Frauen-Lyrik ist das jedenfalls nicht mehr.
In „Silent all these years“ kommt sie auf ihre Stimme zu sprechen. Darauf, dass sie sich endlich darüber zu spreche traut. „Boy you best pray that I bleed real soon“ wirft sie dem namenlosen Mann im Lied an den Kopf. Der Text suggeriert, dass es sich hierbei nicht um eine Liebesbeziehung, sondern um den eigenen Missbrauch in jungen Jahren handelt. Harter Stoff, in ein grandioses Stück Musik verpackt. Tori Amos hat, und das ist die metaphorische Ebene dieses Liedes, ihre Stimme gefunden und spricht aus, was passiert ist, was sie erlebt, was sie fühlt. Auch wenn das für manche Menschen unangenehm oder gar beängstigend sein mag.
Auch der von so manchem Mann imaginierte Sex mit der heißen Rothaarigen verläuft potentiell anders. Etwaige Unterwürfigkeits-Phantasien tritt sie strikt entgegen: „Look I´m standing naked before you/ Don´t you want more than my sex/ I can scream as loud as your last one/ But I can´t claim innocence“. Darüber kann mal als Mann lachen. Das darf einen aber auch ein wenig einschüchtern.
Erweiterung des eigenen Gefühls-Vokabulars
Gut und schön. Warum aber in Gottes Namen sollte man als Mann Tori Amos hören – außer um sich ein wenig vor der rothaarigen, hyper-emanzipierten Frau zu gruseln und froh zu sein, dass die eigene Gespielin doch ein bisserl weniger beängstigend und männermordend auftritt? Ganz einfach. Es gibt zwei Ebenen, um die eigene Entwicklung in Sachen Hörgewohnheiten voranzutreiben. Da wäre einmal das Hören von komplexer Musik, die weit vom Pop-Schema abweicht und in Sachen Harmonik ganz andere Welten aufschließt. Die ausgebildete Pianistin Tori Amos hat in dieser Hinsicht einiges zu sagen und beizutragen, obwohl sie die Konventionen des guten Pop-Songs nie ganz hinter sich lässt. Nicht umsonst wird diese Frau aber auch von Prog-Hörer verehrt.
Vielmehr als die „Hör-Erziehung“ lässt sich mit Tori Amos aber an der „Gefühls-Erziehung“ arbeiten. Denn es reicht als Mann einfach nicht, wenn die einzigen Gefühle Hass, Wut, Lust, Aggression und Durst sind. Es reicht auch auf Dauer nicht, wenn man bei Manowar-Tracks bei jedem „Kill“, „Fight“ oder „Die“ einen Schluck aus der Bierdose nimmt und dann nach zwei Stunden rotzbesoffen Frauen anlabert. Ein bisschen mehr feine Klinge und Gefühls-Differenzierung darf auch dem Mann zugemutet werden.
Mit Tori Amos gelingt das. Liebe und Sex lassen sich plötzlich aus einer ganz anderen, viel feinfühligeren Perspektive betrachten. Tatsächlich wird gar denkbar, dass man in der Öffentlichkeit Gefühle zeigen darf. Auch Männer dürfen weinen. Zumal wenn sie „Little Earthquakes“ hören und die eigene, sehr weiche und verletzliche Seite in sich entdecken, die aber trotzdem sehr genau weiß was sie will und was nicht.
Fazit
Diese Platte hat maßgeblich dazu beigetragen, dass ich nicht mehr der spät-pubertäre Metal-Head bin, der ich einmal war. Immer wieder mal lege ich diese Platte auf und weine dazu ein bisschen. Weil ich kann und weil ich darf. Weil auch Männer zeigen dürfen, wenn sie Musik berührt. Ich kann es nur jedem Mann raten, sich diese Platte zuzulegen, falls sie nicht ohnehin schon heimlich zuhause im Regel steht. Danach darf man mit Joni Mitchell fortsetzen – oder gar mit Björk. Für die Mutigen wäre auch die frühe Kate Bush ein Thema. Nur zu, habt Mut und seid weich. Es wird euch auf keinen Fall schaden.
Zum Reinhören
Titelbild: (c) Chris Carroll/Corbis; Bearbeitung: Felix Kozubek