Schnecken mit Schnitzel
Vorsicht! Auf keinen Fall sollte eine Kombination dieser beiden Spezialitäten angedacht oder gar in die Tat umgesetzt werden. Denn durch eine Vermischung zweier sehr unterschiedlicher Spezialitäten entsteht nicht automatisch ein noch größeres Geschmackserlebnis. Von kulinarischer Symbiose kann in diesem Fall schon überhaupt keine Rede sein. Viel eher würden beiden Kulinarik-Erlebnisse sich durch diese Hybridisierung in geschmackliche No-Go-Areas runterziehen. Es handelt sich um zwei getrennte Systeme, die sich nicht in die Quere kommen sollten.
Ähnlich mag es einem Schreiberling mit der aktuellen Einspielung von Viviane Chassot gegangen sein. Diese hochtalentierte Frau versucht mit ihrem Akkordeon Joseph Haydn zu spielen. Dazu muss sie seine Musik, ursprünglich nicht für dieses Instrument gedacht und schon erst Recht nicht dafür komponiert, übertragen. Schließlich war ihr Instrument zu seiner Zeit noch nicht einmal erfunden. Auch in der Schweiz, in der Chassot lebt und in der das Akkordeon das beliebteste Volksmusikinstrument ist, war Hadyn nie.
Was liegt also näher, als dass von einer Schweizer Musikerin mit dem Akkordeon seine Musik eingespielt wird? Eben. Genau das veranlasste einen Schreiberling jedenfalls zu mutmaßen, ob das gut gehen könne. Denn merke: Der Klassik-Betrieb ist nicht sehr offen und experimentierfreudig, wenn es um die Neuauslegung ihrer kanonisierten Meisterwerke geht. „Haydn auf Französisch? Das klingt doch wie Wiener Schnitzel mit Weinbergschnecken„, meinte der Rezensent im „Rondo“.
Die Rezension kippt dann zwar ins Positive und die Anfangsfrage stellt sich als kleine Provokation und geschickter Aufhänger des Textes heraus. Dennoch sagt dieser damit einiges über die Klassik-Szene und die Klassik-Hörer aus. Toleranz ist nicht zwingend die Stärke dieser „Szene“.
Mit dieser relativen Intoleranz versperrt und verwehrt man sich auch kurzerhand das Abenteuer und die ungezähmte Lust zum Experiment. Kein Wunder somit, dass viele Klassik-Veröffentlichungen zwar sachkundig klingen, dem Notentext gerecht werden aber man sich ein mehr oder weniger leises Gähnen oft nicht verkneifen kann. Viele Klassik-Einspielungen bestätigen den Blick auf das Werk es jeweiligen Komponisten, den man auch zuvor schon hatte. Neuer Blick, neue Perspektiven? Meist Fehlanzeige.
Angesichts der Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation dürstet so mancher, und auch ich, nach dezent frevelhaften Perspektiven. Exakt diesen Perspektive lässt sich mit Viviana Chassot auf Joseph Haydn werfen. Man muss weder Fan von Schnitzel mit Schnecken-Dekor sein noch muss man das Fernliegende und Skurrile allzu sehr schätzen. Mit ein bisschen Hilfe von ihren Freunden des Kammerorchesters Basels gelingt Chassot nämlich dieser Irrwitz tatsächlich. Schließlich hat sie sich nicht zum ersten Mal an Haydn vergangen. Bereits vor Jahren hatte sie unter teilweise großem Kritikerlob diesen ungewöhnlichen Schritt gewagt.
Frühlingserwachen
Nach den ersten Tönen ihrer aktuellen Einspielung ahnt man noch wenig. Das Kammerorchester Basel musiziert souverän. Bis dahin könnte es aber auch noch eine routinierte und deutlich überdurchschnittliche Haydn-Aufnahme sein. Bei 1:15 setzt Chassot mit ihrem Akkordeon ein. Der erste Satz, mit „vivace“ also mit der Tempobezeichnung „lebhaft/lebendig“ versehen, wird durch ihr Spiel regelrecht zum Strahlen gebracht. Haydn erklingt neu, obwohl ihm zugleich auch großer Respekt gezollt wird. Sie stößt Haydn mit ihrem frischen und lebendigen Zugang nicht um, aber sie stößt die Hörer an genau und wie zum ersten Mal hinzuhören. Alles wirkt frühlingshaft, neu, leicht, bunt.
Das ist bemerkenswert. Schließlich hatte Chassot keine Referenz-Aufnahmen zur Hand. Wie auch. Diese gibt es schlicht und einfach nicht, wenn es um Haydn und das Akkordeon als Solo-Instrument geht. Mit weniger Musikalität, Entdeckergeist und Abenteuerlust hätte diese Einspielung eine recht verkrampfte und im schlimmsten Fall verkopfte Sache werden können.
Dann wäre allerhöchstens bewiesen worden, dass es möglich ist, Haydn mit diesem Instrument zu spielen. Was schön aber auch auch Selbstzweck wäre. Man hätte auch vor dieser Aufgabe innerlich kapitulieren und alles hätte immens gezwungen klingen können. Chassot lässt sich nicht einschüchtern. Sie nimmt ihr Akkordeon, die Noten und hat alles stets souverän im Griff. Das Kammerorchester Basel folgt ihr bereitwillig und mit höchster Musizierlust.
Fazit
Entstanden ist mit dieser Einspielung ein Werk, das Mut gibt. Das Raum zum Atmen und zum Experimentieren lässt. Das zeigt, dass klassische Musik und die kanonisierten Werke leben und atmen und manchmal einfach „nur“ von brillanten Musikern neu bearbeitet werden müssen, damit man sie wieder unverstellt und ohne den Ballast der Jahrhunderte erleben kann.
So ist diese Platte auch eine Platte für Menschen, die sich nicht schon jahrelang mit Haydn beschäftigt haben. Durch ihre Leichtigkeit, Musikalität und das Können von Chassot berührt sie unmittelbar und direkt. Ganz ohne Vorkenntnisse. Obwohl diese natürlich nicht schaden können um die Errungenschaft von Chassot richtig zu verorten und einzuschätzen.
Zum Reinhören
Titelbild: (c) Marco Borggreve, Bearbeitung: Felix Kozubek