Plattenzeit #71: The Hirsch Effekt – Eskapist

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Deppat


Die ganze Welt ist deppat geworden. Das mussten auch die Hannoveraner „The Hirsch Effekt“ erkennen. Nicht man selbst ist verrückt, sondern die Menschen um einen herum. Diese Festellung hat natürlich Konsequenzen. Kümmerte man sich früher vornehmlich um das eigene Innenleben und spekulierte über den Geisteszustand der lieben Mitmenschen, so geht man jetzt textlich in die Offensive.
Kein Wunder. Im Heute werden Rechtsradikale gewählt, Reichsbürger mischen sich in politische Diskurse ein und der Griff zum Aluhut ist für zu viele Menschen naheliegend. Und dann noch diese Fake-News! Folgerichtig poltern die Hirschen im ersten Track gleich mal mit einem zünftigen Prog-Metal-Brecher los. Wütend ist man! Angepisst! „Warum nur tu´ ich mir das an“? Eine gute Frage. Der Rückzug wäre aber zu bedauern. Denn „The Hirsch Effekt“ sind vor allem musikalisch aber sowas von spannend.
Gleich im ersten Liedchen „Lifnej“ führt man vor, was man so alles auf der Gitarre und auf den sonstigen Instrumenten gelernt hat. Immerhin ist Nils Wittrock Gitarrenlehrer und auch die anderen Musiker wissen sehr gut, was sie tun. Gitarristisch oder virtuos-allzu-virtuos wird es dennoch nie. Ihr Wissen und Können stellen die progressiven Waldtiere in den Dienst einer gute Sache: Der Klischeevermeidung. Gar nicht so einfach bei einer Musik, die erst einmal nach Metal klingt, es aber dann im Endeffekt doch nicht ist. Bolzen, hämmern, rasen, wüten, schreien, grooven. All das gelingt. Meist gleichzeitig, übereinander und untereinander.
Die Vorzüge der Band aus Hannover liegen von Beginn der Platte an voll ausgebreitet auf dem Musiktisch. Nach den Bolz-Passagen folgen Sekunde der inneren Einkehr. Das ist so schön, dass das gar im deutschen oder österreichischen Format-Radio laufen könnte: „Einmal noch!/ Gib dich mit mir hin!/Tanz mit mir servil/Zum uns vertrauten Lied//“. Und so weiter und so fort.  Ebenso sehr wie sich die Riffs in den Hörgängen festfräsen funktioniert dieser Quasi-Refrain als unerbittliche Hookline. Ihr Radio-Airplay verhauen diese Spinner aber spätestens dann, wenn sie diese Augenblicke der Kontemplation mit wahnwitzigen rhythmischen Freiheiten konterkarieren.
In diesem Ton geht es weiter. Statt der gepflegten Selbstzerfleischung bekommen verstärkt die nicht allzusehr gemochten Mitbürger eins reingewürgt. „Das Bäuchlein wohl genährt/Der Kopf ist feist und leer/Nein!/Indulent und dumm/Stur bis in den Tod/Kein Gott findet hier her/“. Menschenlieben und Akzeptanz der Eigenheiten sieht definitiv anders aus. Wenn es eh keinen Gott gibt, darf man die Menschen auch scheiße finden und ihnen das so glasklar auch ins Gesicht sagen.
Die zunehmende Dummheit der Menschen macht natürlich auch traurig. Man könnte auch sagen depressiv. Wie sollte man schließlich nicht verzweifeln, wenn jemand ernsthaft das Heil der Welt in dem Wiederstarken des Nationalismus sieht? Na eben. „Wir bauen unser Leben einfach Stein auf Stein/Oder lassen unser Leben einfach sein//“, wehklagt man etwa in dem kryptisch betitelten „Inukshuk“. Dazu ließ man sich das poppigste Hirsch-Lied aller Zeiten einfallen. In einem Radiosender, gemacht für melancholische Hobby-Eskapisten und Lebensmüde, würde dieser Track jahrelang den Nummer-Eins-Slot besetzen.
Neben dieser konzisen „Pop-Nummer“, die natürlich immer noch die eine oder andere rhythmische und harmonische Feinheit in petto hat, lässt man sich gerne viel Zeit. Auch die 10-Minuten-Marke wird geknackt. Bei musikalisch betuchten Menschen wie „The Hirsch Effekt“ führt das aber nicht zu akuter Langeweile. Sie feuern aus allen Rohren, zelebrieren Riffs für die sich andere harte Bands alle zehn Finger abschlecken würden und sind insgesamt der durchschnittlichen Metal-Band aus deutschen Gefilden um Lichtjahre voraus.


Fazit


Mit „Eskapist“ hat diese Ausnahmeband endlich auch auch international für Aufsehen gesorgt. Kritiker aus aller Welt lobpreisen sehr. Ob es mit dem ganz großen Durchbruch klappt, so jenseits von Kritikerliebling und Auskennerband? Man wird sehen. „Eskapist“ ist jedenfalls gnadenlos gut. Tracks fließen ineinander über, Aufbau und Spannungsbogen des Albums sind nichts weniger als vorbildlich. Nach dem Hören des Albums ist man erschöpft und verwirrt. Soll man das mit dem Leben jetzt sein lassen oder seine ganze gottlose Wut auf Gott und die Welt rauslassen? Keine Ahnung. Am besten noch einmal auf „Play“ drücken und „Eskapist“ gleich noch einmal hören.


 Zum Reinhören



Titelbild: (c) Maria Sawicka, flickr.com

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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