„Mr. Gershwin, music is music“
Alban Berg und George Gershwin sind sich 1928 in Wien begegnet. Zwischen ihnen lag gewöhnlich der Atlantik. Berg komponierte „Lulu“ in Wien zwischen 1929 und 1935, während Gershwin auf der anderen Seite des Ozeans etwa zur selben Zeit seine „Girl Crazy Suite“ vollendete. Berg bewunderte die Musik von Gershwin und umgekehrt. In Wien soll Alban Berg den folgenschweren Satz zu Gershwin gesagt haben: „Mr. Gershwin, music is music“. Noch am selben Abend spielte Gershwin, ermutigt von den Worten Bergs, seine eigene Musik auf dem Klavier. 1930 fand die Uraufführung seiner „Girl Crazy Suite“ statt. Diese wurde zum durchschlagenden Erfolg, zumal der ersten Aufführung noch weitere 272 Vorstellungen folgten.
Das Motto „Music is music“ lässt sich auch dem aktuellen Album von Barbara Hannigan voranstellen. Zusammen mit dem Ludwig Orchestra lässt sie sich von ihrer Leidenschaft, ihrer eigenen Biographie und von einer gehörigen Portion Verrücktheit leiten. Als zentrale Figur und Leitinstanz dient ihr dabei Lulu. Sie ist für Hannigan augenscheinlich auch die richtige Person, um ihr Album-Debüt als Dirigentin und Sängerin anzugehen.
In Bergs Oper „Lulu“ findet sie das notwendige Rüstzeug für das Abenteuer dieser Aufnahme. Gegen Ende von Bergs Oper erinnert sich Lulu an einen Wendepunkt in ihrem Leben. Sie beschreibt die Zeit als 15-jähriges Mädchen, als sie drei Monate ganz ohne Männer in einem Krankenhaus verbringen durfte. In dieser Zeit habe sie ihre Stimme, sich selbst und ihren Platz in der Welt gefunden.
In ebenjene 15-jährige Lulu versetzt sich Barbara Hannigan, wenn sie „Sequenza III“ von Luciano Berio intoniert. Es ist ein schwieriges Stück, das die Interpretin ganz auf sich und ihre Stimme zurückwirft. Lange hatte sich die tollkühne Stimmmeisterin Hannigan nicht an dieses Stück herangewagt, da sie stets die Sängerin Cathy Berberian im Ohr hatte. Für die vorliegende Aufnahme hat sie, ganz wie Lulu, ihre eigene Stimme und ihren ureigenen Zugang gefunden. Sie singt höher, mädchenhafter. Eben so, wie die mädchenhafte Lulu singen würde, die gerade selbstbewusst ihre neue Rolle und ihre Stimme der nicht stets freundlich gestimmten Welt präsentiert.
Ihre Stimme wird zu ihrer Heimat und zu ihrem Schutz. Die Worte von Markus Markus Kutter bilden den Rahmen: „Give me / a few words / for a woman / to sing / a truth / allowing us / to build a house /without worrying / before night comes//“. Die Sängerin dieses Stückes ist ungeschützt. Kein Orchester unterstützt sie. Es ist ein Stück ohne Sicherheitsnetz. Die Sängerin muss auf volles Risiko gehen, ihrer Stimme abenteuerliche Töne entlocken. Am Ende findet sie aber zu sich selbst und hat diese paar Wörter und Töne zur Verfügung, um sich selbst das notwendige Musik-Refugium zu erbauen.
Nach diesem Stück hat Lulu alias Hannigan nicht nur ihre Stimme gefunden, sondern auch ihre Rolle in der Musik verändert und erweitert. In der „Lulu-Suite“ von Alban Berg dirigiert und singt sie. Sie hat die musikgewordene Welt im Griff, sie bildet das Zentrum. Selbstsicher dirigiert und intoniert sie. Höhepunkt markiert der vierte Satz der Suite, das „Lied der Lulu“. „Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen / als wofür man mich genommen hat / Und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen /als was ich bin //“. Doch Lulu ist keineswegs unschuldig. Ihretwegen haben sich Männer das Leben genommen, später wird sie selbst zur Mörderin. Am Ende der Oper wird sie, mittlerweile Prostituierte, von Jack the Ripper umgebracht.
In der Suite wird nicht die ganze Geschichte der Oper erzählt. Sie diente Berg als eine Art „Trailer“. So lässt sich auch anders mit Lulu umgehen. Hannigan betrachtet sie nicht als Femme Fatale, sondern als freien Geist, der sein Recht darauf verteidigt so zu sein, wie sie eben ist. Dieser freie Geist strahlt manchmal hell. Zu hell für die Welt. Lulu ist verrückt, aber nicht wahnsinnig.
Die verrückte und von der Welt oft verkannte und geschmähte Lulu dirigiert und singt sich sodann anschließend durch die „Girl Crazy Suite“. Arrangiert wurde diese von Bill Elliott und Barbara Hannigan selbst. Orchestriert hat ebenfalls Bill Elliot. Die Komposition von Gershwin wird dadurch zur Suite, welche die vorangegangene „Lulu Suite“ spiegelt und fortführt. Während Berg Jazz-Andeutungen in seiner Suite zulässt, so klingt die „Crazy Girl Suite“ in der Bearbeitung von Hannigan und Elliott überraschend „klassisch“. Hier wurden von informierten Musikern Brücke gebaut, ohne dass die jeweiligen Charakteristika der Kompositionen verloren gehen. „Music is Music“ bedeutet nicht Nivellierung. Aber es bedeutet, dass man Gemeinsamkeit in unterschiedlichen Stilen findet und zugleich die Unterschiede in letzter Konsequenz auskostet.
Für die „Girl Crazy Suite“ versetzt sich Hannigan auch in die Rolle der lesbischen Gräfin Geschwitz, welche in „Lulu“ die Titelfigur aus dem Gefängnis befreit. „They´re writing songs of love/But not for me/ A lucky star´s above/But not for me.“ So heißt es in „But Not For Me“, das in der Suite in „Embraceable You“ und schließlich in „I got Rhythm“ übergeht. Mit letzerem schließt sich der Kreis des Albums. Die Ich-Erzählerin des Liedes findet Heimat im Rhythmus und in der Musik.
Hannigan selbst hat eine Heimat gefunden. Im pulsierenden Rhythmus. In allen möglichen Musikstilen. In der Entgrenzung. Musik ist Musik. Man muss das als Programm, nicht nur als Motto verstehen. Im besten Fall sogar als Anleitung dafür, sich an so gut wie alles heranzuwagen und sich nicht von der Welt und deren Erwartungshaltungen einschränken zu lassen.
Fazit
Das vorliegende Album von Hannigan und dem Ludwig Orchestra, das bei den orchestralen Stücken auf immens hohem Niveau agiert, wird für Furore sorgen. Es wird so manchen Rahmen sprengen und für Irritationen sorgen. Aber das ist es wohl auch, was hier intendiert ist. Wer sich dieses beeindruckende Stück Musik über mit dem Leitfaden „Musik ist Musik“ anhört, wird Parallelen finden, wo er bisher keine vermutetet, wird Hör-Abenteuer erleben, die der verschlossene und genrefixierte Musikhörer nur erahnen kann.
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Titelbild: (c) MITO SettembreMusica, flickr.com