Plattenzeit #85: Julien Baker – Turn Out the Lights

3 Minuten Lesedauer

Ausnahmeerscheinung


Singer-Songwriter gibt es wie Sand am Meer. Wirklich auffällig werden nur wenige. Julien Baker ist eine solche Musikerin, die auffällig wird, obwohl ihre Musik zart, zerbrechlich und leise ist. Ihr zweites Solo-Album ist von einer solchen Fragilität, dass man sich fast nicht darüber zu schreiben traut. Auf den ersten Blick wirkt die Musik jedenfalls einfach gestrickt und fast schon konventionell. Dabei ist es aber nicht Einfachheit, sondern Klarheit, die diese Platte auszeichnet.
Die junge Songwriterin, sie wurde 1995 in Memphis geboren, gelangt auf diesem Album zu einer erstaunlichen Reife. Ihre Musik ist emotional, aber nicht weinerlich, ihre Texte sind präzise Beschreibungen eines traurigen Menschen für traurige Menschen. Die Musik dazu fließt langsam, kommt mit wenigen Stimmungen aus. Manche nennen das „Slow-Core“ oder „Post-Emo-Folk“. Klar ist auf alle Fälle, dass Baker in naher Zukunft keine fröhlichen, lebenslustigen und schnellen Songs schreiben wird, zu denen man tanzen kann.
Viel eher ist die Platte eine Gefühls-Steilvorlage für Leute, die sich verkriechen und am liebsten alle Treffen mit Freunden absagen wollen. Stattdessen sitzt man bevorzugt bei gedimmtem Licht zuhause und legt sich „Turn Out The Light“ auf den Plattenspieler. Bereits nach ein paar Tönen steigen einem Tränen in die Augen. Man hat das Gefühl, dass man doch raus gehen hätte sollen und ist zugleich glücklich-traurig, dass man es nicht getan hat.
Glücklich-traurig kann man natürlich auch zu anderer Musik sein. Was bei Julien Baker dazukommt ist die absolute Aufrichtigkeit ihrer Musik. Auch wenn es abgedroschen klingt: Man glaubt ihr jedes Wort. Man leidet mit, wenn sich ihre Stimme, selten aber doch, zu hinreißenden Gefühlsausbrüchen erhebt. Musikalisch, obgleich stets dem relativen Minimalismus verpflichtet, ist außerdem nie banal.
Baker bedient im Laufe des Albums darüber hinaus nicht die üblich Harmonik-Klischess des Genres, sondern findet mittels durchaus origineller Zupftechniken und Akkord-Variationen zu einer dezenten Andersartigkeit, die sich aber nicht aufdrängt. Das ist umso erstaunlicher, als dass sich „Turn Out the Lights“ sehr viel mit persönlichen Krisen auseinandersetzt. In Selbstmitleid suhlt sich Baker aber nicht, sondern der künstlerische Gestaltungswille ist in jeder Note präsent, wenngleich sie auch hier dem Hörer die Kunstfertigkeit ihrer Songs nicht gerne auf die Nase bindet.


Fazit


„Turn out the Lights“ entfaltet sich von Hördurchgang zu Hördurchgang mehr. Julien Baker und ihre Musik wachsen einem ans Herz und gehen einem ans Herz. Sie berührt einen tief, ohne Filter, ohne Gimmicks, ohne zwischengeschaltete Spielereien. Das Album ist echt.


Zum Reinhören





Titelbild: (c) andywitchger, flickr.com

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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