Wenn es früher hieß „mei Bua, der soll was Gscheit’s lernen“ so bedeutete dies, das Kind solle einen Lehrberuf ergreifen, mit dem es eine Familie ernähren könne. Heute ist „was Gscheit’s“ ein Studium, das gesellschaftlich angesehen ist und die Möglichkeit bietet, im Anschluss einen gut bezahlten Job zu finden. Jus, Wirtschaft, Medizin. Nicht Komparatistik, Germanistik, Archäologie oder gar Ethnologie. Und doch sitze ich an einem Samstagvormittag vor einigen Jahren mit 400 Studierenden in einem Hörsaal der Innsbrucker Geiwi. Am Programm steht eine Vorlesung mit dem verlockend klingenden Titel „Einführung in das philologisch-kulturwissenschaftliche Studium“. Da müssen alle durch, die eine Geisteswissenschaft studieren möchten. Lautes Geschwätz macht den fensterlosen, heruntergekommenen Hörsaal beinahe unerträglich. Doch dann tritt eine Professorin ans Mikrofon und rezitiert gekonnt geheimnisvoll ein Gedicht.
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Es ist Goethes „Wandrers Nachtlied“, das 400 erstsemestrige Plappermäuler in seinen Bann zieht. Im Saal ist es plötzlich mucksmäuschenstill und dann gratuliert uns die Professorin zur Wahl unseres Studiums. Die Philologie sei etwas Wunderbares, wir sollen unser Studium der Literatur und der Kultur genießen so gut es nur gehe. Dies war das erste und letzte Mal, dass jemand meine Studienwahl bewunderte und mich in ihr bekräftigte.
Geld regiert die Welt
Über ein Drittel meiner Mitschüler am Gymnasium studiert heute Medizin, einige studieren Wirtschaft. Manche werden Musiker, andere Lehrer. Und so bekam ich bald zu spüren, was es heißt, an der Innsbrucker philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät, der Geiwi, zu studieren. Hier gibt es Wollmützen und Jutesäcke, Hunde in den Vorlesungen, Fenster, die sich nicht schließen lassen, Klotüren, die sich nicht öffnen lassen. Es mangelt an Lernplätzen, Sitzmöglichkeiten, Computern, Räumen zum Diskutieren, Plätzen zum Ausruhen, Schatten im Sommer, Wärme im Winter und an Personal. Seminare kommen nicht zustande, da die so dringend benötigten Professoren nicht bezahlt werden können. Aber sag schnell, wie viel kostete der neue WU Campus in Wien? 500.000.000 Euro? Nein, vierhundertzweiundneunzigmillionen. Eine halbe Milliarde Euro.
Es ist offensichtlich: Geld regiert die Welt. Manchmal, wenn ich in einer Mittagspause an der Innpromenade entlang spaziere, schweifen meine neugierigen Blicke zum Gebäude des CCB, dem Centre of Chemistry and Biomedicine. Die Nordkette spiegelt sich in der Glasfassade, im Garten sitzen junge Studierende im Schatten der Bäume, essen Salat und trinken Smoothies. Klar, Mediziner und Chemiker brauchen helle, sterile Räume um zu arbeiten, teure Geräte für ihre Analysen. Sie brauchen das alles, weil der Staat will, dass sie möglichst schnell und professionell vorankommen, gute Ergebnisse liefern, im internationalen Vergleich mithalten können. Sie sollen Aids heilen, Atome teilen und dafür bekommen sie die notwendige finanzielle Unterstützung und das Ansehen in der Bevölkerung. Spaziere ich in die andere Richtung, komme ich zur Innsbrucker Sowi. Die Nordkette spiegelt sich in der Glasfassade, im Garten sitzen junge Studierende im Schatten der Bäume, essen Salat und trinken Smoothies. Es ist ein friedliches Bild und gerne wäre ich ein Teil davon. Wenn ich bloß wüsste, was der Dow Jones Index ist oder wie eine Reaktionsgleichung funktioniert. Ich weiß es leider nicht und Kopfrechnen kann ich auch nicht. Wie gerne würde ich das lieben, was auch der Staat liebt. Wie gerne würde ich das studieren, in das der Staat der internationalen Konkurrenz wegen investiert und somit bestmögliche Voraussetzungen für ein Studium schafft. Aber nein, ich studiere Anglistik. Das hat nichts mit Investitionen und nichts mit Krebsforschung zu tun. Und leider pfeift der Staat auf alles, was nicht Wirtschaftswachstum und internationale Anerkennung bringt.
Warum Geisteswissenschaften?
Ich studiere Anglistik weil ich mich die anglophone Welt fasziniert. Die Sprache, die Literatur, die Geschichte, die Menschen, die verschiedenen Kulturen in englischsprachigen Ländern. All das liebe ich und ich liebe es, darüber zu lernen. Mich interessieren theoretische Hintergründe des menschlichen Handelns, kulturwissenschaftliche Thesen und sprachliche Zusammenhänge. Lese und analysiere ich Shakespeare, so lerne ich über die dunkelsten und grausamsten Abgründe der menschlichen Natur, die entsetzlichsten Liebesdramen und lustigsten Begebenheiten. Studiere ich die postkolonialen Theorien eines Homi Bhabha oder Judith Butlers Thesen der Geschlechterverhältnisse, so beginne ich unsere Gesellschaft zu hinterfragen, zu verstehen und zu kritisieren. Mein Studium erklärt mir die Welt auf eine zwar herausfordernde jedoch für mich befriedigende Art und Weise. Es macht mich zu einem gebildeten, kritischen, toleranten, und vielschichtigen Menschen. Doch weder Staat, noch Gesellschaft interessieren sich für diese Art der Bildung. Was zählt, sind die Hard Facts über Konjunkturschwankungen, das Know How über Börsencrashs.
Das Wissen, das sich Studierende der Philologie aneignen wird nicht wertgeschätzt, oft werden sie von oben herab betrachtet. Während Mediziner oder Juristen wochenlang für Prüfungen paukten, hätten Philologen ein leichtes Leben. Ich finde es nicht leicht, einer Sprache bis zur äußersten Perfektion mächtig zu sein. Ich finde es nicht leicht, die Theoretiker des 19. und 20. Jahrhunderts zu verstehen, ihre Theorien anzuwenden und auf die heutige Welt zu projizieren. Ich finde es nicht leicht, die Botschaften der Literaten der letzten Jahrhunderte zu verstehen und analysieren. Ich finde es nicht leicht, von vielen für meine Studienwahl nur milde belächelt zu werden. Ich finde es nicht leicht, mich meines Studiums wegen pausenlos rechtfertigen zu müssen, nur deshalb weil es Menschen oft an Kreativität mangelt, sich vorzustellen was man denn „damit machen kann“.
Um ein Leistungsstipendium an der Uni Innsbruck zu erlangen, gilt es an den meisten Fakultäten im Rahmen von 50 ECTS-Punkten in einem Studienjahr keinen schlechteren Notendurchschnitt als 1,5 zu bekommen. Dies betrifft zum Beispiel die Fakultäten der Architektur, Betriebswirtschaft, Biologie, Chemie & Pharmazie, Mathematik, Politikwissenschaft und einige andere. An der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät wird eine außerordentlich gute Leistung erst bei einer Absolvierung von 60 ECTS-Punkten mit einem Schnitt von 1,2 belohnt. Aristoteles, Homer und deren Kollegen würden sich im Grab umdrehen, wüssten sie von der Degradierung ihrer Geisteswissenschaften.
Sind in es aber in Wirklichkeit nicht Literatur und Kunst, die die Welt am Leben halten? Sie erzählen von vergangenen Fehlern, warnen vor der Zukunft, bereichern unser Leben an Schönheit. Im Grunde wissen wir es alle: Geld macht die Welt nicht unbedingt schöner. Es macht uns oft zu schlechten Menschen. Literatur jedoch, macht uns meist zu Guten. Warum also müssen wir, die Literatur, Kultur und Kunst studieren, uns klein machen vor denen, die Banking, Finance und Business studieren. Warum werden wir bewusst klein gehalten? Ist es aus Angst, dass studierte Literaturwissenschaftler die Welt doch besser durchschauen könnten, als angenommen? Ist es aus Angst, die Kunst könnte mit ihrem ehrlichen und schonungslosen Kommentar zu unerwünschten Themen womöglich gefährlich werden?
Was nun?
Wie also umgehen mit der Abwertung des eigenen Studiums, des Faches für das man sich so euphorisch entschieden hat? Werde ich beim 30. Maturajubiläum alleine eine Flasche Sekt öffnen, während Max im OP arbeitet, Lara bei einer Tagung in Frankfurt ist und Simon ein Konzert in Berlin gibt? Oder habe ich längst lange graue Haare, lebe mit zwei Germanisten und einer gescheiterten Yogalehrerin in einer WG? Werde ich noch umschwenken und „was Gscheit’s“ lernen? Oder bleibe ich bei dem, was mich bisher glücklich gemacht hat, was mir Spaß macht und ich moralisch vertreten kann? Vielleicht aber strecke ich auch weiterhin meine Fühler aus, vertraue auf mein Können, meine Erfahrung und scheiße auf die goldenen Kloschüsseln und roten Teppiche der WU.
Texte die in der AFEU Kategorie „Meinung“ veröffentlicht wurden, stellen die private Meinung der einzelnen Autoren und nicht jene der gesamten Redaktion dar. Als offene, unabhängige Plattform für engagierte, experimentierfreudige Autoren, ist uns eine Vielfalt an Meinungen wichtig. Diese Texte haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Angeregte, respektvolle Diskussionen, rund um die einzelnen Standpunkte, sind herzlichst erwünscht.
Liebe Hannah,
kann deine Aufregung darüber, dass die Geisteswissenschaften nicht ausreichend gewürdigt werden zwar nachvollziehen, aber nicht verstehen. Dass geisteswissenschaftliche Studienrichtungen nicht prestigeträchtig sind, wird dir wohl auch vor Beginn deines Studiums klar gewesen sein, und dass sich das nicht von heute auf morgen ändert, war auch bestimmt absehbar.
Wenn du dich also über mangelndes Prestige beschwerst, dann unterscheidest du dich kaum von einem WU Studenten, der nur BWL studiert, weil es angesehen ist…
Dein Argument, dass an den Universitäten vor allem das gefördert wird, was später Geld bringt, ist absolut richtig. Hätte mir dann aber gewünscht, dass du das ein bisschen mehr ausführst, anstatt dich zu beklagen, dass alle mehr Geld bekommen als die GeiWi.
Dass Literatur und Kunst die Welt „am Leben halten“, halte ich für eine überspitzte Formulierung, die so nicht stimmt. Wo du aber- aus meiner Sicht- sicher Recht hast, ist, dass Literatur und Kunst die Welt besser machen.
Zuletzt noch ein kleiner Fehler: 500.000.000 Euro, also 500 Millionen Euro sind eine halbe Milliarde.
Obwohl das jetzt alles sehr kritisch klingt, was ich da geschrieben habe, der Artikel ist auf jeden Fall gut, sonst hätte ich mir nicht die Mühe gegeben „meinen Senf dazuzugeben“. In diesem Sinne: „Daumen hoch“.
lg, Matthias
Lieber Matthias,
Danke für deinen Kommentar und dein Feedback!
Worum es mir in diesem Text ging, war aufzuzeigen, dass und warum junge Leute die Geisteswissenschaften (und Kunst) studieren oft von oben herab betrachtet und behandelt werden. Vielleicht kannst du meinen Ruf nach, wie du es nennst, „Prestige“, ich würde es „Geltung“ nennen, verstehen, wenn du dir die Situation vieler Künstler, Literaten, Filmemacher, Musiker, Literaturwissenschaftler und anderer geisteswissenschaftlicher Theoretiker vor Augen hältst. Es passiert hier eine ungerechtfertigte Degradierung, was z.B. Ausbildung oder Bezahlung betrifft. Das stört mich, denn ich sehe keinen Grund dafür. Ich finde das unfair. Und dies betrifft ja nicht nur den akademischen Betrieb. Man beachte nur Norbert Pleifer, der aus Geldmangel den Treibhauskeller zugemauert hat. Mir ist wichtig, dass die Kunst (und hiermit meine ich jegliche Form der kreativen Betätigung; Sprache, Musik etc.) und die Theorie dahinter in einem Staat wie Österreich nicht nur überleben, sondern auch leben kann, und das muss in der Ausbildung (und in der Motivation dazu) beginnen.
Wenn man so will, ist „am Leben halten“ eine Metapher. Wenn ich schreibe, dass Kunst die Welt „am Leben hält“, dann möchte ich darauf hinweisen wie unglaublich wichtig Malerei, Literatur, Musik, Film etc. für Gesellschaften war und ist. Wäre es nicht so, würden totalitäre Regime nicht Künstler als gefährliche Regierungsgegner einstufen und von der Gesellschaft wegsperren. Pussy Riots in Russland oder Ai Weiwei in China sind nur wenige Beispiele. Kunst ist eine friedliche Ausdrucksform, die Geschehnisse kommentiert (um an dieser Stelle nur die politischen Möglichkeiten der Kunst zu nennen). Auf diese Weise regt sie zum kritischen Denken an, hinterfragt politische Gegebenheiten. Die rechtliche und finanzielle Möglichkeit das zu tun, finde ich wichtig.
Liebe Grüße,
Hannah