Das Märchen von der Gastfreundschaft

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Seit zwei Tagen haben wir Herbst. Der Sommer ist somit vorbei. Und es war ein heißer Sommer. Nicht nur weil mancherorts jahrhundertealte Temperaturrekorde gebrochen wurden. Viel mehr, weil in diesem Sommer richtig viel los war in Europa. Man konnte sich der Geschehnisse und den Bildern kaum entziehen. Die Zeitungen sind voll damit. Online und Offline. Teilweise sogar mit Live-Ticker. TV-Stationen berichten quasi rund um die Uhr. Es gibt Analysen, Expertenstimmen, Entscheidungsträger die sich zur aktuellen Lage äußern und für ihre Vorschläge und Ideen werben. Auf den Social Media Plattformen wird heftig diskutiert. Wo soll das alles nur hinführen? Ist diese Entscheidung die richtige? Hätte man nicht schneller reagieren können oder sogar müssen? Wieso wird hier nicht reagiert, sondern einfach nur zugeschaut? Wo haben sie nur ihr Herz? Eines ist sicher. Es tut sich etwas in Europa. Europa ist in Bewegung.
Auch die nackten Zahlen belegen dies. Tausende haben in diesem Sommer ihr Land verlassen und sind aufgebrochen in eine ungewisse Zukunft. Ob sie am neuen Ort glücklich werden? Wird es ihnen leicht fallen sich zu integrieren? Werden sie mit offenen Armen empfangen oder fängt erst jetzt die wahre Tortur an? Viele junge Menschen stehen vor einer ungewissen Zukunft und stellen sich genau diese Fragen. Und alles Geld der Welt, kann hier keine positiven Antworten garantieren. Aber es wird kosten – Milliarden an Euro – so viel ist sicher. Wenn so viele Menschen ihre Heimat verlassen, um anderenorts glücklich zu werden, dann kostet das immer Geld. Die Summen die in den Zeitungen stehen und öffentlich gemacht werden, sind nur Annäherungen und reichen bei weitem nicht an die realen Kosten für all das heran. Erst die kommenden Monate, vielleicht Jahre, werden uns zeigen wie teuer das alles war.
Wer diese Fakten liest wird sich unweigerlich die Frage stellen, ist das alles noch normal? Ist das wirklich nötig? Ist es wirklich nötig, dass Tausende ihr gewohntes Umfeld verlassen, um in der Fremde ihr Glück zu suchen? Ist es wirklich nötig, dass hier so viel Geld in die Hand genommen wird, obwohl niemand sagen kann, wo all das hinführen wird? Ist es wirklich normal, dass in nur einem Sommer Milliarden locker gemacht werden, damit ein junger Belgier, ein Argentinier, ein Engländer mit Wurzeln in Jamaika, ein Franzose mit Wurzeln in der Karibik, ein Belgier mit Wurzeln im Kongo, ein Chilene, ein Deutscher, ein Kroate – dass Brasilianer, Türken, Kolumbianer und Spanier den Verein wechseln können? Dass junge Männer mit hundert tausenden von Euros überschüttet werden? Extra schnell Arbeitsbewilligungen ausgestellt werden, egal über welchen Pass der Arbeitssuchende verfügt? Ist das alles noch normal? Offensichtlich ja.
Wieso ich gerade den Fußball verwende, um aufzuzeigen welche Doppelmoral hier bei uns in Europa vorherrscht? Weil ich mich noch sehr gut an das Jahr 2006 erinnern kann. Damals war Fußball-WM in Deutschland. Das Motto: Die Welt zu Gast bei Freunden. Deutschland feierte ein Sommermärchen und präsentierte sich der Welt offen, herzlich und freundlich. Was der Fußball alles möglich macht. Angela Merkel jubelt in bunten Jacketts auf der Tribüne. Sie leidet mit. Sie schüttelt Hände. Herzt Spieler. Zeigt die Gastgeberqualitäten Deutschlands stolz der ganzen Welt. Sie hat das gut gemacht. Denn auch heute glauben viele, dass Deutschland ein gastfreundliches Land ist. Tausende skandieren, lautstarker als in manchem Fußballstadion, am Bahnhof in Budapest: Germany, Germany!
Bleibt zu hoffen, dass nicht nur Angela Merkel und Deutschland sich an ihre Gastgeber-Qualitäten erinnern. Sondern ganz Europa. Gemeinschaftlich. Denn Europa steht in der Verantwortung zu beweisen, dass die Gemeinschaft über Einzelinteressen steht. Dass man in Krisenzeiten handlungsfähig ist. Dass es nicht nur im Fußball möglich ist, dass Menschen nach Europa kommen und Arbeit finden. Dass, anders als im Fußball, das Herz über Geld und Einzelinteressen siegt. Ansonsten haben wir zwar meteorologisch Herbst – doch eine Kälte wie mitten im Winter.

Glaubt an das Gute im Menschen. Eigentlich Betriebswirt. Hat das ALPENFEUILLETON ursprünglich ins Leben gerufen und alle vier Neustarts selbst miterlebt. Auch in Phase vier aktiv mit dabei und fleißig am Schreiben.

1 Comment

  1. Der Vergleich mit dem Fussball ist mehr als passend, Felix. Da werden völlig utopische Unsummen für Leute hingeblättert, die halt einen Ball halbwegs gerade treten, ins Tor befördern oder von diesem fernhaltenkönnen. Und dort gibt es Aufschreie, wenn weniger Menschen vor Krieg und Terror flüchten und denen man das Schwarze unterm Fingernagel neidig ist. Da läuft was schief …

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