Stellt euch vor, es gäbe da einen Ort, an dem Musik von höchster Güteklasse und Qualität angeboten werden würde. Immer und stetig in gleichbleibender Qualität. Dieser Ort wäre natürlich kuratiert und von der geschickten Hand eines wissenden und umfassend gebildeten künstlerischen Leiters geführt.
Dieser Ort hätte aber das Problem, dass die Besucherinnen und Besucher ausblieben und lediglich die wenigen noch verbliebenen Stammgäste immer wieder kämen. Vor allem die jungen Menschen, der sogenannte Nachwuchs, würde vollständig ausbleiben.
Der künstlerische Leiter wäre klarerweise überaus frustriert, verstünde die Welt und vor allem die jungen Menschen nicht mehr, die sich lieber saufend und kiffend die Zeit vertreiben als auf hochkarätige Konzerte zu gehen. Damit würde er sich reflektiert, vermutlich aber unreflektiert in die lange Tradition der Jugendbeschimpfungen und Jugendschmähungen einreihen.
Dass die Jugend verlottert sei, wurde schon vor sehr langer Zeit festgestellt. In einem alten Keilschrifttext, datiert in etwa mit 2000 v. Chr., wird deutlich festgehalten: „Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“
Bezeichnend ist auch, dass der Philosoph Platon anmerkte: „[…] die Schüler achten Lehrer und Erzieher gering. Überhaupt, die Jüngeren stellen sich den Älteren gleich und treten gegen sie auf, in Wort und Plan.“ Etwas lapidar könnte man also feststellen, dass die ältere Generation seit Jahrtausenden Vorurteile gegenüber der heranwachsenden Jugend hegte. Sie sei heruntergekommen, möglicherweise auch degeneriert, zumindest aber uninteressiert, was Autoritäten und „alte Werte“ und Vorstellung betrifft.
Werte sind auch Erzählungen, die weitergegeben wurden. Auf sachlicher Ebene ließe sich feststellen, dass Jugendliche und junge Menschen, sagen wir etwa im Studentenalter, zu einem gewissen Teil auf den Bruch mit den „Erzählungen“ der vorangegangenen Tradition setzen. Das rückt auch in den Vordergrund, dass Erzählungen immer sprachlich in Szene gesetzt und tradiert werden. Nicht nur der Inhalt zählt, sondern auch die Form der Weitergabe. Sprache beschreibt nicht nur die Welt, sie erschafft und konstruiert die eigene Welt.
Kein Wunder somit, dass Jugendliche und junge Menschen ihre eigene Sprache, ihre eigenen sprachlichen Codes und ihre eigenen Neologismen suchen und auch gefunden haben. Die „Welt“ der vorangegangenen Generation ist längst untergegangen, junge Menschen konstruieren, basteln und diskutieren gerade eine mögliche neue Welt.
Sie wollen sich die Welt nicht von der „älteren“ Generation erklären lassen. Ganz einfach, weil es diese Welt gar nicht zu erklären gibt. Weil sie diese Welt nichts mehr angeht. Die Begriffe der Vorangegangenen greifen nicht mehr. Sie beschreiben nicht mehr die Welt, in der die heutige Jugend lebt. Auch die Musik klingt grundlegend anders.
Musik darf dabei nicht nur als einfacher „Soundtrack“ zum gegenwärtigen Leben von jungen Menschen verstanden werden. Sie ist Ausdruck und Spiegelbild einer „sprachlichen“ Verschiebung, der Veränderung der Begriffe und des erneuerten Repertoires und Vokabulars von jungen Menschen.
Der hier beschriebene künstlerische Leiter eines fiktiven Ortes, der auf höchste musikalische Qualität setzt, übersieht in diesem Kontext vor allem, dass sich auch das Repertoire und Vokabular der Musik stetig ändert. Die Musiksprache, die der fiktive künstlerische Leiter als relevant empfindet, wird von den jungen Menschen im Heute möglicherweise nicht mehr als relevant empfunden und eingeschätzt. Es ist denkbar, dass sie diese „Sprache“ und dieses Vokabular auch gar nicht mehr beherrschen. Neutral kann generell gesagt werden, dass sich Sprache verändert, verschiebt und erweitert.
Nur wenn ich Goethes Sprache als beste aller möglichen Sprachen als Ideal festsetze, wird mir die Sprache der Jugend als Sprachverfall erscheinen. Neutral gesehen lassen sich auch hingegen lediglich der Wandel und die Veränderung an sich attestieren. Ist der „Straßen-Slang“ von manchen Jugendlichen weniger wertvoll als die Sprache von Goethe? Nur, wenn ich der Idee anhänge, dass es eine ideale Sprache gibt. Auf sachlicher Ebene ist festzustellen, dass die Sprache von Goethe eine andere Welt beschreibt und damit konstruiert als die Sprache eines Jungen, der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und lebt.
Das führt zurück auf die Aussage von Platon, dass die Schüler ihre Lehrer und Erzieher gering achten würden. Damit kommt auch der imaginäre künstlerische Leiter ins Spiel. Er befindet sich klar in der Rolle eines Erziehers, der die „Jugend“ und die jungen Menschen gerne mit seinem aus seiner Sicht ausgereiften und hochdifferenzierten Musikvokabular beglücken würde. Die Jugend indes lässt sich offenbar nur ungern belehren und findet notwendigerweise ihr eigenes Vokabular.
Nur aus der Sicht des künstlerischen Leiters, der dem Ideal einer immerwährenden, unveränderlichen, universellen Musiksprache anhängt, wirkt die heutige Musik uninteressant und unverständlich. Da er ein Anhänger der „guten alten Werte“ der „Neuen Musik“ und des „Modern Jazz“ ist, kommt ihm die heutige Musik auch seltsam uninteressant, einfach und banal vor.
Die Fronten sind verhärtet. Auch in Innsbruck. Auch in Tirol. Die Gräben zwischen den Generationen und dem jeweiligen Musikgeschmack sind tief. Hat man jemals einen Menschen um die 20 bei einem Avantgarde-Jazz-Konzert gesehen? Ich denke nicht. Hat man jemals einen gesetzten, großbürgerlichen Bildungsbürger bei einem Indie-Konzert in einer der Räumlichkeiten der sogenannten „Off-Szene“ getroffen? Ich bezweifle es.
Gibt es eine Lösung? Ich bin unsicher. Aber es ist offensichtlich, dass sich diese Gräben temporär schließen oder zumindest weniger tief erscheinen, wenn sich die verschiedenen Musikvokabularien verbinden und verschmelzen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Band „Snarky Puppy“, die komplexen Fusion-Jazz mit der Selbstverständlichkeit und Lässigkeit einer Pop-Band spielt. Damit wird sie vor allem in den USA mit einem jungen Publikum belohnt, von dem andere „Jazz-Bands“ nur träumen können. Es ist also möglich.
Ja, ich habe eine utopische Forderung an Musik in der Hinsicht, dass sie Möglichkeiten zur „Versöhnung“ bereitstellt. Wer sich musikalisch wieder versteht, findet möglicherweise auch anderweitig zueinander. Mögen sich also die Kuratoren der „elitären alten Musik“ nicht endgültig einmauern in ihren „Werten“ und in ihrem Anspruch und sich die Jugendlichen und jungen Menschen nicht endgültig mit ihrer ostentativ zur Schau gestellten „anderen“ Musik zufrieden geben.
Möglicherweise taugt nämlich auch „altes Musikvokabular“ dazu, die Komplexität der heutigen Welt zu thematisieren und möglicherweise kann die sogenannte „E-Musik“ von der Leichtfüßigkeit und vom Trendbewusstsein und Inszenierungsdrang der „U-Musik“ der Gegenwart lernen. Es wäre zumindest nicht ganz ausgeschlossen. Diese Erkenntnis würden manchem, fiktiven oder realen Veranstalter oder Kurator so manchen Frust ersparen. Und würde Jugendlichen möglicherweise eine Erweiterung des eigenen musikalischen Vokabulars ermöglichen.
"Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos"
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Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.
Sprache verändert sich schneller denn je. Nicht nur neue Wörter sondern gleich neue Kommunikationskanäle tun sich auf, und selbst wenn man „deren“ Sprache spricht, muss es für „die“ nicht gleich ansprechend sein. Und da geb ich nicht den kiffenden Jungen die Schuld. Es ist eher so, dass man von den „Alten“ verlangen kann, sich vom angesabberten Frühschoppentisch zu erheben und auch mal eine Abendveranstaltung zu besuchen und ihre Scheu(klappen) oder Faulheit in Bezug auf neue Medien über Bord zu werfen.
Jedoch – sobald die „Alten“ die neuen Kanäle entdecken, weicht die Jugend schon wieder auf noch neuere (virtuelle) Räume aus, um „unter sich“ zu sein (Beispiel Facebook – das hat schon lange seinen Reiz verloren, zumindest für mich als „fast noch Junge“).
Die Gräben zwischen den Generationen waren schon immer da und werden vermutlich auch ewig bestehen bleiben. Aus diesem Teufelskreis werden wir niemals rauskommen – aber wollen wir das überhaupt?
Ich glaube es ist schlicht und einfach nicht machbar (und auch nicht erstrebenswert), alle Generationen kulturell gleichermaßen anzusprechen. „Musik höchster Güteklasse“ – was ist das schon? Und wer darf diese „Güteklasse“ definieren? Monotone Technoparties haben genauso ihre Daseinsberechtigung wie facettenreiches, komplexes Gitarrenspiel.
Musik ist da, um uns das zu geben, das wir brauchen. Und diese eintöniger Sound ist genau das, nach dem die Jugend von heute lechzt. Ein stumpfes Herunterkommen, ein Fluchtversuch aus der ständigen und immer noch komplexer werdenden Reizüberflutung.
„Alte“ Musik ist deshalb nicht gleich tot, aber dümpelt in einer Art Wachkoma herum. Hier gilt es, sich zu definieren und herauszufinden: welches Klientel will ich überhaupt motivieren und wie finde ich den richtigen Kanal dazu? Grölende bekiffte 18-Jährige sind das dann wohl eher nicht, oder? Sonst vergrault man sich am Ende noch die 8 Stammhanseln und die elitäre Blase ist endgültig geplatzt 😉