„Welches Märchen hat euch am meisten geprägt – und warum?“ fragt mich ein Jugendmagazin eines namhaften Verlags auf Facebook. Das Sujet ist in den Farben gelb und orange gehalten. Es erinnert mich an altes Pergament. Ein Hauch von Nostalgie steigt in mir hoch. Ich nehme die Frage ernst und denke nach.
Märchen. Das sind für mich, in einer ersten Assoziation, all die Geschichten die uns tagtäglich von Pressestellen, Agenturen und Marketingabteilungen um die Ohren gepfeffert werden. Nach zwei, drei weiteren Gedankensprüngen komme ich zum Schluss, dass die Frage des Jugendmagazins wohl nicht auf diese Inhalte abzielt. Die echten Märchen sind gefragt. Jene die Mama und Papa, Großmutter und Großvater einem vorgelesen haben. Die Geschichten aus dem düsteren Zauberwald, wo an jeder Ecke ein böser Wolf oder eine Hexe lauern könnte. Die Erzählungen, in denen Kinder entführt und blonde Jünglinge zu Helden gemacht werden. Die Gebrüder Grimm haben sie gesammelt und verbreitet. Doch wie gingen die noch einmal?
Die Namen der meisten Märchen habe ich noch präsent, sie geistern durch meinen Kopf, doch die Emotionen sind längst vergangen. Sie erscheinen mir wie dunkle Schatten, die normalerweise nur auf Verfluchten lasten. Die Werbung eines heimischen Möbelgiganten ist mir da viel näher. Selbst die Musik, die dem Spot hinterlegt ist, kann ich ohne große Anstrengung wiedergeben. Ebenso schnell fällt mir ein, dass Geiz geil und alles möglich ist. Ich weiß auch, dass ein bestimmtes Getränk Flügel verleiht und wer DAS Auto produziert. Komische Sache. Sagt der Volksmund nicht, dass die Erfahrungen der Kindheit einen Menschen am meisten prägen? Es muss doch noch eine Emotion vorhanden sein. Es wird doch ein Märchen geben, das mein liebstes ist?
Anstatt die Frage endlich zu beantworten und dadurch die Qualen zu beenden, fallen mir nur noch mehr Geschichten der modernen Märchenerzähler ein. Die Storyteller haben es einfach drauf. In Akademien und an Unis lernen sie das flechten von emotionalen Handlungssträngen, bedienen sich dabei uralter Muster von Tragik bis Komödie und bringen ihre modernen Märchen in bunten, schreienden Farben. Dabei spielen sie die Klaviatur der emotionalen Erpressung, der Sehnsüchte und Wünsche so virtuos, dass ich selbst mit einem mir unbekannten Mann, der in Wahrheit vielleicht gar kein richtiger Opa ist, Mitleid entwickle.
Ich bemerke, dass es die emotionsgeladenen Geschichten sind, die es mir angetan haben. Die traurigen, die melancholischen. Jene die zumindest so tun, als würden sie die Realität zeigen und auch die dunklen Seiten, eben Themen wie alleine sein, Trauer oder Ungerechtigkeit beleuchten. In der quietschbunten Werbewelt der andauernden Geilheit fühle ich mich so überhaupt nicht wohl. Mir wird schwindelig und ich bekomme Angstzustände, wenn ich dem monotonen Werbefluss ausgesetzt bin, der eher an den LSD-Trip eines Glückbärchis erinnert, als an das wahre Leben. Diese Inhalte, von wegen „have a … and smile“ und CO, stehen nämlich in einem solch argen Widerspruch zu den Bildern die mich täglich in den Nachrichten verfolgen, wie die verschneiten Hänge in den Werbevideso namhafter Skigebiete, zu den grünen Grashügeln die ich draußen sehe.
Vielleicht tue ich mir deshalb so schwer ein Lieblingsmärchen zu finden, weil diese Inhalte mein Hirn vollgestopft und mich verwirrt haben. Vielleicht ist es diese Philosophie der schreienden Inhaltsleere die mich verflucht und in den hundertjährigen Schlaf geschickt hat. Wobei. Wenn ich richtig überlege … es gibt doch ein Märchen das mir präsenter ist, als jedes andere. Es geht um einen Kater in schwarzen Stiefeln und einen Esel der dauernd quasselt und einen grünen Typen der im sumpfigen Wald wohnt … Ach nein. Das war eine andere Geschichte.
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