Lärm. Akustische Umweltverschmutzung. Dauerberieselung im Büro. Musik als ständiger Begleiter. Nichts könnte grauenvoller sein. Die Orientierung geht verloren. Vor allem aber die Stille.
Stille wird unterschätzt. Sie ist nicht nur die Abwesenheit von Lärm, sondern eine Situation der Ganzheit. In der Musik ist sie der Moment, bevor ein Ton erklingt. Eine Situation, verbunden mit Erwartungshaltungen. Die Stille ist ein Zwischen-Raum. Ein Moment zwischen Tönen, Klängen und Sounds. Musik braucht ein gutes Gefühl für Leerstellen, Zwischenräume und Stille.
Der komponierende Musiker muss mit der Stille leben lernen. Sie ist mit der Leere verwandt, die nicht das Gegenteil von Inspiration bezeichnet. Leere ist die Form, die gefüllt werden muss. Leere ist der Augenblick bevor sich herausbildet, mit welchen Akkorden, Sounds und Tönen Fülle erzeugt werden soll. Wirklich überzeugende Musik muss diese Symbiose von Leere und Fülle anerkennen. Musik, die übervoll und überfüllt ist, hat davon wenig verstanden. Die Leere und die Stille sind wesentlicher Bestandteil von Musik.
Wollte man eine Diagnose in Bezug auf die Gegenwart stellen, dann wäre es wohl die Feststellung, dass wir in einer Zeit der Überfüllung und Überfülle leben. Wir werden dauerbeschallt, müssen dauernd konsumieren, dauernd rezipieren. In diesem Dauerfeuer des Müssens und Gedrängt-Werdens haben wir verlernt, dass es auch anders sein könnte. Wir entscheiden nicht mehr, sondern irren durch das Dickicht der Möglichkeiten und lassen entscheiden.
Das hat einen einfachen Grund: Situation, die voll und überfüllt sind, lassen keine oder kaum Entscheidungsmöglichkeiten. Sie zeigen sich nicht mehr in ihrer Konstruktion. Ihre Kontingenz ist nicht oder kaum mehr wahrnehmbar.
Stille ist somit ein guter Lehrmeister. Wer sich mit ihr umgibt, der denkt nach über die Möglichkeiten. Über das Potential. Über das, was sein und noch werden könnte. Darüber, dass nichts notwendigerweise so ist, wie es ist. Das gilt natürlich vor allem für den Komponisten, der weiß, dass seine Entscheidung andere Möglichkeiten ausschließt. Ein Ton, der gespielt wurde, schließt einen anderen, potentiell möglichen Ton aus.
Die Lehre für den Alltag, die wir daraus ziehen können ist einfach. Lassen wir uns nicht mehr drängen. Halten wir uns verstärkt fern von der Überfülle und Überfüllung. Gönnen wir uns Stille und Leerlauf. Fragen wir uns, welche Entscheidungen getroffen wurden, dass es zu einer Zeit der ständigen Überfülle und der dauernden Reizüberflutung gekommen ist.
Treten wir einen Schritt zurück und denken nach. Ganz still. Hören wir der Stille zu. Sie hat uns viel zu sagen, weil sie uns eben nichts sagen möchte. Sie möchte uns nichts verkaufen, sie möchte uns nicht drängen. Das macht sie kostbar. Gerade in Zeiten wie diesen.
Hier geht es zu den vorherigen Folgen der Kolumne "Kleingeist und Größenwahn"
John Cage – 4’33