Text von Patrick Berger
Wer in diesen Zeiten keine Meinung besitzt, der ist eine Bestie, eine Intelligenzbestie, fast schon ein Genie. Jetzt muss ich natürlich erklären warum. Die kurze Antwort gibt sich leicht: Weil 99 % der Personen zwar „meinen“, aber nicht verstehen. Die lange Antwort erfordert ein wenig Gehirnarbeit. Jetzt aber bitte nicht dem unguten Bauchgefühl trauen und abschalten, denn diese Gefühl in der Magengrube setzt meist nur ein, wenn wir unsere grauen Zellen anstrengen und dagegen sträuben wir uns instinktiv. Aber das Gehirn einzuschalten lohnt sich und widerspricht keineswegs dem Appell keine Meinung zu haben.
Verwenden wir als Ausgangspunkt den ständigen Wechsel unserer Meinungen. Wir widersprechen uns andauernd selbst. So steht es schon in der Bibel geschrieben:
„… Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, …“ (2. Mose 20, 5)
„Die Väter sollen nicht für die Kinder noch die Kinder für die Väter sterben, sondern ein jeder soll für seine Sünde sterben.“ (5. Mose 24,16)
Um diese Aussagen zu kennen, musste ich nicht schnell Theologie studieren, sondern nur „Widersprüche in der Bibel“ bei Google eingeben. Der große Wissensspeicher namens Internet führt die Beweisführung hin zu keiner Meinung fort. Es wurden noch nie so viele Aussagen von so vielen Personen so genau gespeichert, wie in unserem heutigen Alltag. Das sollte die Vorsicht vor dem „meinen“ schüren, denn allzu oft hat man es später anders gemeint. Für dieses peinliche Eingeständnis fehlt oft nur eine einzige zusätzliche Information im komplizierten Geflecht unseres Erlebens.
Diese komplizierte Verflechtung von Infos führt uns zum zweiten Grund zugunsten keiner Meinung. Alle Sachverhalte in unserer heutigen Zeit sind so komplex, dass „meinen“ und „hashtagen“ zwar ein guter Bewältigungsmechanismus ist, aber kein Verstehen und noch weniger ein lösen. Zeigen wir das an einer aktuellen Frage: Sollten wir Flüchtlinge aufnehmen?
Zum einen ist das Recht auf Asyl in einem eigenen Gesetz verankert (AslyG 2005). Zum anderen sind wir nicht für die Situation im Heimatland der Flüchtlinge verantwortlich. Oder sind wir das eigentlich doch durch die Ausbeutung ihrer Ressourcen? Aber wir haben bestimmt nicht den Islam zum IS gebracht. Moment von welchem Herkunftsland sprechen wir eigentlich? Hätten wir nie die Gründung von Israel zulassen sollen? Oder entstanden alle Probleme nur weil ein amerikanischer Präsident hinter dem Busch hervorkam und in den Irak einmarschierte? Aber das amerikanische Volk hätte dies wohl nicht ohne diesen speziellen Tag im September zugelassen? Aber woher kommt der Hass des Islams auf die westliche Welt?
Diese Fragerei ließe sich endlos fortführen und zeigt, dass wohl nur sehr wenige Menschen die aktuelle Situation bis ins Detail verstehen. Eine Frage habe ich noch. Wer will sich eigentlich damit bis ins Detail beschäftigen? Ich glaube nur Menschen, die es müssen! Keine Meinung zu haben, kann also durchaus als Luxus verstanden werden.
Unserer unbändiger Drang nach Meinung
Leider verstehen es in unserer Gesellschaft die wenigsten Menschen als einen Luxus keine Meinung zu haben. Wir halten den Individualismus hoch und wachsen mit einem bestimmten Kampfgeist auf. Wir verehren Menschen die eine andere Meinung hatten, wie Luther oder die Studenten mit der weißen Rose. All das setzt eine eigene Meinung voraus. Zudem werden wir durch die Informationsgesellschaft ständig mit Dingen bombardiert, zu denen wir gefälligst eine Meinung haben sollten und diese lässt sich über Social Media so einfach äußern, wie noch nie zuvor. Das lässt uns die manchmal einzig kluge Alternative vergessen: keine Meinung haben!
Niemand darf mich nun falsch verstehen. Es muss eine Reaktion auf die Flüchtlingssituation geben, auf Kriege oder sexuelle Belästigung in oder neben einem Dom. Aber ich bin nicht der Entscheidungsträger für diese Dinge und kenne niemanden, der belästigt wurde. Helfe ich dann nicht mehr, wenn ich meine Energie darauf verwende in meinem Einflussbereich das Beste gebe, selbst wenn es nur darin besteht zu arbeiten und Steuern zu zahlen, damit die Verantwortlichen mehr Spielraum erhalten? Selbst wenn es nur darin besteht überflüssige Kleidung zu spenden, aber danach meinen Geist und meine Psyche zu schonen und keine Meinung zu haben? Ich denke ja!
Danke an Markus Stegmayr für die Inspiration zu diesem Beitrag und keine Meinung schließt auch keine Empörung mit ein.
Artikelbild: (c) Transformer18, "Opinion", flickr.com