Gestern ist etwas passiert, von dem ich gehofft hatte, dass es nie geschehen würde. Es ist nämlich so. Die Harry Potter Saga hat mich durch meine gesamte Kindheit begleitet und selbst mein Erwachsenwerden maßgeblich beeinflusst. Der weltberühmte Zauberlehrling war glücklicherweise genauso alt wie ich, als ich mit dem Lesen des ersten Buches begonnen hatte. Jahr für Jahr wurden wir gemeinsam älter, hatten die selben Gedanken und mussten uns den gleichen Herausforderungen stellen. Als Harry zum ersten Mal der Liebe begegnete, folgte ich ihm kurze Zeit später. Als meine Hormone mir den pubertären Groll auf die Welt bescherten, ging es Harry gleich. Kurz gesagt – Harry und ich sind gemeinsam aufgewachsen.
Dementsprechend schwer fiel auch die Trennung. Nach sieben Jahren Hogwarts, nach sieben Büchern war Schluss. Wir gingen getrennte Wege. Keiner warf einen Blick zurück. Nur in den Erinnerungen hatten wir uns noch. Und das war gut so. Schließlich mussten wir beide endlich erwachsen werden und uns voneinander lösen. Doch seit gestern ist alles anders. Joanne K. Rowling und ihr Verlag kündigten einen achten Harry Potter Band an. Noch in diesem Jahr soll er erscheinen. 19 Jahre nach der großen Schlacht um Hogwarts geht es also weiter. Harry und ich werden wieder aufeinander treffen. Wir werden einander beäugen, kritisch und mit skeptischem Blick. So wie es alte Schulkollegen beim Maturajubiläum eben tun. Und ich habe Angst davor. Nein. Ich lehne es sogar ab.
Nachdem mich die Hiobsbotschaft erreichte, war der restliche Tag für mich zerstört. Keine Netflix-Serie dieser Welt hätte mich ablenken, keine wärmende Dusche mir das Gefühl der Geborgenheit schenken können. Es war unmöglich ruhig da zu sitzen und einen klaren Gedanken zu fassen. Alles drehte sich um Harry, Hermine, Ron, um Hogwarts, Zauberstäbe und Muggel. Es war fast so, als wäre ich selbst nicht anwesend. Ich saß zwar offensichtlich an meinem Esstisch, doch mein Blick war lethargisch und starrte ins nichts. Es war fast so wie früher, als ich beim Lesen der Romane fast in der Badewanne ertrunken wäre und es nur dem energischen Trommeln meiner Mutter an die Badezimmertüre zu verdanken war, dass nicht schlimmeres passierte. Mein Kopf war wieder auf Droge. Ich war wieder abhängig.
Das Gefühl, einer Sache oder einer anderen Person völlig ausgeliefert zu sein, ist ein schreckliches. Zumindest wenn man es mitbekommt. Als Teenager habe ich das lange nicht bemerkt und bin nach Hogwarts geflohen, sobald es in der Realität unangenehm wurde. Schlechte Noten in der Schule, ein zerbrochenes Herz, Streit mit den Eltern genügten und ich saß im Zug nach Nordengland oder Schottland oder wo auch immer Hogwarts eben ist. Plötzlich war ich weg und mit mir die Probleme aus der Muggelwelt. Es war ein herrliches Gefühl einfach fliehen zu können und zu wissen, dass es einen Ort gibt an dem ich jederzeit willkommen war. Doch irgendwann änderte sich das.
Als Harrys Gedanken immer dunkler wurden und die große Schlacht um Hogwarts sich langsam abzeichnete, war auch die einst so zauberhafte Welt, nicht mehr jener paradiesische Ort voller Butterbier, Knallbonbons und Tarnumhänge. Immer öfter waren mir Harrys Gedanken fremd. Personen zu denen ich einst aufsah und sie bewunderte, zeigten plötzlich eine zweite, eine düstere Seite. Lehrer die ich hasste wurden zu Helden und Schulleiter zu Irren. Der aufkommende Konflikt, die spürbare Nähe und das Stärkerwerden jenes Mannes, dessen Name nicht ausgesprochen werden darf, nahmen meinem Zufluchtsort jegliche Wärme. Stück für Stück verdunkelte sich der Himmel, Seite für Seite fühle ich mich unwohler, Buch für Buch wurden die Risse tiefer.
Schweren Herzens und unter großer Überwindung las ich bis zum Schluss, musste miterleben wie Freunde starben, Familien zerrissen wurden und Loyalitäten erloschen. Selbst als am Ende alles gut war, war gar nichts gut. Denn es war nichts mehr da. Keine Freude, keine Erleichterung. Der Ort an dem wir einst so glücklich waren, existierte nicht mehr und nichts auf der Welt hätte ihn wieder zurückbringen können. Ich habe meinen Blick deshalb abgewendet, habe nicht mehr zurückgeblickt und habe akzeptiert, dass die Zauberwelt für mich gestorben war. Irgendwo unter den Trümmern von Hogwarts.
Nun geht die Geschichte also weiter. 19 Jahre später. Harry soll einen biederen Job im Zaubereiministerium haben und sein Sohn Albus Severus unter dem Erbe seines Vaters leiden. Nach 19 Jahren betreten wir also ein weiteres Mal das Gleis 9 ¾ und setzen uns in den Zug nach Hogwarts. Und obwohl ich das so gar nicht will, werde ich wieder mitfahren. Ich werde ein weiteres Mal eintauchen in diese magische Welt. Doch mein Blick wird diesmal ein anderer sein. Ein distanzierter, ein kühler und vorsichtiger. Ich werde mich nicht mehr komplett ausliefern und mich abhängig machen.
Doch ich werde mit Sicherheit eines tun. Ich werde Harry, Hermine, Ron, Albus Severus und Hogwarts bestimmt nicht ablehnen. Ich werde sie nicht ignorieren. Denn genau das ist es, was der, dessen Name nicht genannt werden darf, einst wollte. Einen Keil zwischen uns treiben. Einen Graben schaffen, zwischen dem vermeintlich Guten und vermeintlich Bösen. Zwischen Zauberern untereinander, zwischen Zauberern und Muggeln. Er hat uns gegeneinander ausgespielt, Lügen, Angst und Schrecken verbreitet. Und damit hat er uns allen genommen, was wir einst so liebten. Doch diesen Gefallen werde ich ihm nicht noch einmal tun. Ich werde meine eigene Ablehnung, die meinen Blick zurück bisher verhinderte, überdenken und sie im Auge behalten. Denn vielleicht hatte ich ja gar nie Angst vor dem achten Band und, dass die Welt sich hätte verändern können, sondern lediglich davor, dass ich diese Welt nicht mehr verstehen könnte.
Hier geht es zu den vorherigen Folgen der Kolumne "Kleingeist und Größenwahn"