Es gib Momente im Lebens eines Autors, da muss man das formelle Korsett packen und es in die Ecke schmeißen, Grenzen aufbrechen und anstatt eines üblichen Kolumnentextes, einfach etwas Literatur schreiben. Heute ist ein solcher Moment. Ein Moment, in dem ich euch die Geschichte von Ali Baba und dem 40-jährigen Räuber erzählen möchte.
Der 40-jährige Räuber war zu Beginn der Geschichte noch gar kein 40-jähriger Räuber. Vielmehr war er ein 38-jähriger Bauer, was ihm so gar nicht schmeckte. Als Bauer hatte er zwar einen eigenen Hof mit allerhand Knechten und Mägden, denn er war ein guter Bauer, doch er war auch ein Leibeigener, Leibeigener des Herrschers und damit abhängig. Dabei war der Bauer alles andere als gut darin abhängig zu sein. Im Gegenteil. Er packte Gelegenheiten stets beim Schopf und folgte seinem eigenen Kopf, egal was die Vernunft und die Leute rund um ihn herum, dazu zu sagen hatten.
So war der 38-jährige Bauer im ganzen Land für seine umtriebige Art und sein loses Mundwerk bekannt. Regelmäßig fuhr er von Markt zu Markt und versuchte den Leuten allerhand Dinge anzudrehen, die sie eigentlich nicht brauchten. Von der Bürste für den Esel, bis zur Leine für die Ente hatte er stets wundersame Dinge bei sich. So war er über die Jahre hinweg zu gutem Geld gekommen, was ihm zwar Ansehen unter Seinesgleichen, aber auch Neid und wenig Glück einbrachte. Der 38-jährige Bauer hatte nämlich noch lange nicht genug. Er träumte davon ein unabhängiger, freier und großer Mann zu sein.
Eines Tages kam ein Reisender an seinem Hof vorbei. Dieser war auf der Suche nach einer Bleibe für die Nacht. Der Bauer, ein großherziger und zeitgleich neugieriger Mann, bot dem Reisenden sogleich ein warmes Bett für die Nacht. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Bis früh in die Morgenstunden saßen die beiden in der Stube, tranken Selbstgebrannten und erzählten sich gegenseitig lustige Geschichten. Und der Wanderer hatte viel zu erzählen, immerhin kam er gerade von einer langen Reise.
Der Reisende berichtete dem Bauern von fernen Königreichen, in denen die Menschen frei waren, frei und glücklich. Und er berichtete über unsäglichen Reichtum der Leute die dort lebten. Freie Leute, Händler, Handwerker, Bauern. Sie alle hatten in dem fernen Königreich die Möglichkeit große, anerkannte Männer zu werden. Einer von ihnen, sie nannten ihn den König der Händler, war Ali Baba. Er hatte es zum größten Reichtum geschafft, der einem freien Mann von nicht adeligem Stand, je zuteil geworden war. Ali Baba war der reichste Bürger der damaligen Welt.
Den 38-jährigen Bauern faszinierten die Geschichten von Ali Baba, immerhin erinnerten sie ihn an ihn selbst und so dachte er sich, diesen Ali Baba muss ich kennen lernen. Bereits am nächsten Tag, als der Reisende weiter gezogen war, verkaufte der Bauer seinen Hof, packte sein ganzes Hab und Gut zusammen und zog los, in Richtung Osten, auf der Suche nach dem großen Ali Baba.
Erst nach zwei langen Jahren kehrte der Bauer wieder nach Hause zurück. Ali Baba und das sagenumwobene Königreich hatte er nie gefunden. Auch hatte er sein ganzes Vermögen auf der Reise aufgebraucht. Doch er war dennoch reich zurückgekommen. Reich an Geschichten. Denn auf der langen, einsamen Reise hatte der 39-jährige Bauer, der mittlerweile ein 40-jähriger Reisender war, viel Zeit, um sich allerhand lustige, heitere und spannende Geschichten von fernen Ländern, großem Reichtum und wilden Abenteuern auszudenken.
So zog er nach seiner Rückkehr wieder von Markt zu Markt und erzählte den Leuten diese wundersamen Geschichten. Die beliebtesten waren jene über Ali Baba. In diesen berichtete er von seinem ersten Treffen mit dem großen Händler. Wie sie sich in die Augen sahen und wussten, dass sie aus dem selben Holz geschnitzt waren. Er erzählte auch wie er gemeinsam mit Ali Baba zu viel Geld gekommen war und mit den Königen speiste. Dies führte dazu, dass nicht nur seine Geschichten immer beliebter wurden, sondern auch die wertlosen Utensilien, die er von seiner Reise mitbrachte und die er nun verkaufte.
Nachdem er wieder ein halbes Jahr zu Hause war, kam abermals der Reisende vorbei, der ihm damals von Ali Baba erzählt hatte. Dieser war bestürzt darüber, dass sein ehemaliger Gastgeber so dreiste Lügen verbreitete und lies die Menschen wissen, welchem Lügner sie aufgesessen waren. Und so kam es, dass aus dem ehemaligen Bauern, der nach seiner Rückkehr als „der beste Freund des großen Ali Baba“ bekannt wurde, ein Räuber, ein Geschichtenräuber wurde. Und bis heute erzählen sich die Menschen davon, von „Ali Baba und dem 40-jährigen Räuber“, der am Ende nicht viel mehr hatte, als eine handvoll unwahrer Geschichten.
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