Ich träume oft davon, wie ich in einem kleinen, feinen Obstfachgeschäft Kirschen kaufe. Die freundliche Bedienung erklärt mir, welche Sorten sie gerade lagernd hat, wie sie sich von Geschmack, Form und Farbe unterscheiden und selbstverständlich darf ich auch immer welche probieren. Meist entscheide ich mich nicht für die prallen, dunkelroten Kirschen, die gleich neben der Kassa präsentiert und mit dem Beisatz „gewachsen und veredelt in Tirol“ beworben werden. Sobald bei Lebensmitteln der Beisatz „veredelt“ steht, werde ich skeptisch. Unter veredelt kann alles verstanden werden. Das Pflücken und in kleine Körbchen legen. Das Abwaschen und Polieren der einzelnen Früchte. Aber eben auch ganz andere Dinge, an die ich nicht denken möchte, wenn ich in die süßen Früchte beiße. Es sind genau diese Überlegungen, aber auch mein Drang den vermeintlich Schwächeren helfen zu wollen, dass ich mich immer gegen die großen, dunkelroten und für die kleinen, helleren Kirschen entscheide. Die kommen dann zwar nicht vom heimischen Kirschbaum, sondern aus dem Süden, kosten dafür aber auch circa ein Drittel.
Meist erwache ich sobald ich den Laden verlasse und die freundliche Bedienung mit einem noch freundlicheren Lächeln verabschiede. Doch seit drei Nächten geht der Traum weiter. Und so schön er begonnen hatte, so fürchterlich setzt er fort. Keine drei Schritte von dem Laden entfernt, überkommt mich die Lust, ich öffne die Papiertüte, in der Kirschen auf mich warten und greife zu. Die ersten Exemplare entsprechen meinem Geschmack. Sie sind zwar kleiner und heller als ihre dunkelroten Tiroler Kollegen, aber vom Genuss her scheinen sie ihnen um nichts nachzustehen. Nach der dritten Hand voll, kommt langsam der spitz zulaufende Boden zum Vorschein. Nur noch wenige Kirschen befinden sich in der Tüte. Nichtsahnend und langsam dahinschlendernd, greife ich tief hinein und da passiert es. Von den letzten vier übrigen Kirschen sind drei faul. Faulig, stinkend und ungenießbar. Nachdem ich noch nicht weit von dem Obstfachgeschäft entfernt bin, in dem ich die Kirschen kurze Zeit zuvor für teures Geld gekauft habe, beschließe ich kehrt zu machen und mich höflich, aber bestimmt zu beschweren.
Obwohl keine fünf Minuten zwischen meinem Besuch und meiner Rückkehr vergangen ist, bin ich erstaunt, dass das Licht im Laden erloschen und das Gitter vor der Türe heruntergelassen ist. Wo vorher noch eine freundliche Bedienung mit die Unterschiede der Kirschsorten erklärte, hängt nun ein Schild: „Wir haben geschlossen.“ Komisch, denke ich mir, es ist doch erst elf Uhr und komme mir betrogen vor. Ich wache auf. Mein Herz pumpert und das Gefühl betrogen worden zu sein, hängt noch immer im Raum. Ich denke mir nichts dabei, bis sich in der darauffolgenden Nacht der Traum wiederholt und dann wieder. In der dritten Nacht voller Kirsch-Betrug-Alpträume, kann ich nicht anders und erzähle meinen beiden Arbeitskollegen davon. Ich hätte mit viel gerechnet, mit Hohn, mit Spott, mit blöden Sprüchen oder Beschwichtigungen, aber nicht mit den Reaktionen, die die beiden tatsächlich zeigen. Sie hätten nicht unterschiedlicher sein können.
Der eine erklärt mir, dass das eine Frechheit sei. Wer in ein Obstfachgeschäft geht und viel Geld ausgibt, der darf keine faulen Kirschen bekommen. Er hätte sich beschwert, das offen und direkt angesprochen. Man müsse sich wehren, von nichts kommt nichts. Der andere kann mich nicht verstehen. Ich solle nicht so sein. Wer Obst kaufe, müsse immer damit rechnen, dass manche Früchte eben faul seien. Das sei normal. Nur Spießer, Wutbürger und Ungustln würden sich da beschweren. Das sein total übertrieben. Vor allem könne die arme Frau nichts dafür. Sie hätte es bestimmt nicht mit Absicht getan. Ein Obstladen sei eben ein schwieriges Umfeld, man könne nicht jede einzelne Frucht im Auge behalten. Manche würden eben einfach verdorben werden und versehentlich in den Verkauf rutschen. Wir sollen endlich aufhören darüber zu reden und weiterarbeiten. Wir arbeiten weiter und ich habe panische Angst vor heute Nacht. Wie wird der Alptraum weitergehen? Was, wenn die Türe offen und das Geschäft nicht geschlossen ist. Werde ich mich beschweren oder werde ich schweigen, weil ich glaube nichts sagen zu dürfen. Wer will denn schon ein Spießer, Wutbürger oder Ungustl sein. Aber an den faulen Kirschen, wird sich dann halt wenig ändern. Ein Alptraum!
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