Ich bin ein zutiefst politischer Mensch. Nicht etwa parteipolitisch. Zumindest nicht mehr euphorisch und überzeugt wie früher. Aber ich bin interessiert, möchte wissen, wie unser aller Zusammenleben gestaltet wird, möchte mitreden. Ich habe Meinung und die verkünde ich auch. Dank meiner recht umtriebigen Studienzeit kenne ich viele Menschen, die politisch aktiv sind, waren, sein wollen oder irgendwann sein werden. Sie tragen unterschiedliche Couleur im Herzen und Kopf. Vom erzkonservativen Klassische-Familie-Verfechter, über den Alles-für-Alle-Rufer, bis hin zum Wir-können-doch-einfach-friedlich-zusammenleben-Träumer ist da alles mit dabei. Ich selbst stehe irgendwo dazwischen. Mal hier mal da. Je nach Thema, je nach Region, je nach Sinnhaftigkeit.
Letztens bin ich aber an meine Grenzen gestoßen. Ich habe mir selbst widersprochen! In zwei aufeinanderfolgenden Diskussionen habe ich zwei komplett unterschiedliche Positionen bezogen. Bei ein und dem selben Thema. Ein kurzer Check. War ich geistig verwirrt? Nicht mehr als sonst. Hatte ich zu viel Bier getrunken? Nein. Wollte ich einfach nur recht haben und habe mein Rückgrad gekrümmt, nur um die Diskussion zu „gewinnen“? Nein, so bin ich nicht. Aber was dann?
Man muss wissen. Seit meinem siebten Lebensjahr bin ich Mitglied bei einer Innsbrucker Musikkapelle. Auch wenn ich die grün-rote Tracht im Moment selten bis nie trage (Kolumnen schreiben kostet Zeit!), fühle ich mich noch immer als Musikant und bin auch stolz drauf. Manch eine Prozession mag zwar mühsam sein. Die Lederhose eher unbequem. Der Janker im Sommer zu warm und im Winter zu kalt. Aber alles in allem passt das schon. Brauchtumspflege ist eine gute Sache. Nicht nur für die Touristen, die sich über lautstarke Aufmärsche und Platzkonzerte in der Innsbrucker Altstadt freuen, wie die Kinder über den Eiswagen.
Das ist meine Überzeugung. Und ich kann es so gar nicht leiden, wenn manche meiner politischen „Freunde“ mir erklären, dass Brauchtum abgeschafft werden sollte. Die ganze Tradition würde das Zusammenleben hemmen, die Weiterentwicklung der Gesellschaft verhindern und Integration schier unmöglich machen. So ein Dreck! In solchen Diskussionen werde ich schon mal laut und energisch. Tradition ein Hemmschuh? Tradition ein Integrationsverhinderer? Ich bin mir sicher und das gebe ich der Welt nun schriftlich: Nur wenn ich meine eigene Tradition kenne. Die Wurzeln und Bräuche. Nur wenn ich mir all dessen halbwegs bewusst bin, kann ich andere Traditionen zulassen und akzeptieren. Wer die eigene Tradition nicht kennt, fühlt sich unsicher, wird sich von anderen Kulturen bedroht fühlen, falsche Schlüsse ziehen und Sachen skandieren, die die Welt nicht braucht.
Letztens dann mein schizophrener Moment. Ich spaziere gefrustet nach Hause. Mal wieder wird mir Innsbruck zu klein und das Inntal zu eng. Neben mir ein guter Freund. Wir diskutieren. Auf dem Weg nach Hause sehe ich eine Tirolfahne im Heck eines dunkelblauen Golf GTI. Darauf zu lesen. „Dem Land Tirol die Treue.“ In meinem Frust beginne ich zu schimpfen. „Genau der Dreck mach das Leben hier so unerträglich. Diese Engstirnigkeit. Dieser Patriotenmüll. Dem Land Tirol die Treue. Genau deshalb gibts bei uns keine anständige Kultur. Genau deshalb haben bei uns alle coolen Sachen die Halbwertzeit einer geschälten Banane. Weil solche Idioten lieber den unsäglichen Marsch trällern, anstatt sich endlich mal etwas neuem zuzuwenden.“ Rumms. Ein heller Moment. Was sage ich da?
Mit der Tradition ist das eben so eine Sache. Man kann sie missbrauchen und sie verstümmeln. Aber Tradition per se zu verteufeln, ist sogar für einen Bergbewohner ein wenig kurzsichtig. Es tut mir leid, liebe Tradition. Die du begraben liegst, unter all dem falschem Stolz und tausenden von Treueschwüren. Das ist dir unwürdig. Das darf nicht sein. Du gehörst zu uns, in unsere Mitte. Und nicht oben auf die Fahnen.
Hier geht es zur vorherigen Folge von "Kleingeist und Größenwahn".
Gratulation zu diesem klugen Text! Was hier vielleicht noch fehlt ist ein Hinweis auf die Notwendigkeit, Traditionen in deren Pflege weiterzuentwickeln. Früher waren Tiroler Musikkapellen eine Männerdomäne, in der Frauen nur aus Schnaps ausschenkender Zierat vorgesehen waren. Heute gibt es auch Musikantinnen und in den Vorständen der Kapellen findet man Frauen inzw. ebenfalls. Außerdem haben viele Frauen und Männer ihre ersten musikalischen Erfahrungen in Musikkapellen gemacht, die später mit ganz anderer Musik als Profi-Musiker_innen erfolgreich wurden.
Analog gilt diese Notwendigkeit zum Weiterentwickeln aber für andere Traditionsvereine auch.