Am Wiener Institut für Höhere Studien (IHS) hat man es nämlich kürzlich gewagt, sich von außen in die verfahrene Debatte einzumischen. Alle haben ihre Meinung zur Schule, und jeder weiß besser als die anderen, was man ändern – oder auch nicht ändern – sollte. Und selbstverständlich hat jeder neben dem eigenen Bildungsideal auch die eigenen Interessen zu vertreten, Lehrer ebenso wie Eltern, die Gewerkschaft ebenso wie das Bildungsressort. Nur die Schüler sind eigentümlich ruhig. Spätestens hier sollte klar werden, dass irgendetwas nicht ganz rund läuft.
Ruhe, Ideologen!
Lorenz Lassnigg vom IHS sagt im allseits überlauten Geschrei etwas sehr Wichtiges: Es kommt letzten Endes nicht so sehr auf die Strukturen an. Mehr als weitere Schützengräben braucht es Kooperation, und vor allem: Mehr Autonomie.
Bildung ist etwas sehr Komplexes. Sie passiert zwischen Menschen, im Diskurs, in der Vermittlung, auch in der Diskussion und im Streit. Sie braucht Zeit, Vertiefung, Anregung. Es geht, auch wenn das romantisch klingt, um den Bezug zur Welt und sich selbst. Dazu kann Kunst ebenso viel beitragen wie Mathematik, Philosophie ebenso viel wie Fremdsprachen.
Niemand kann zur Persönlichkeit werden, wenn er nicht selbst mit Persönlichkeiten zu tun hat. Bildung lässt sich nicht einfach von oben induzieren. Sie ist grassroots, nicht top-down. Die Ideen können noch so gut und die Investitionen noch so hoch sein – wenn die eigentlichen Akteure sich nicht damit auseinander setzen, was sie tun und warum sie es tun, geht die ganze Bildung flöten.
Und mehr Schulautonomie soll die Lösung darstellen? Die Gewerkschaft mundtot machen und die Ruder einfach den Lehrern und Direktoren in die Hand geben? Die Gewerkschaft hört das gar nicht gerne, und ob alle unsere Lehrer dieser Verantwortung gewachsen sind…
Und Herr Lämpel, brav und bieder…
Es ist richtig, dass der Fokus endlich auf die eigentlichen Prozesse gerichtet werden müssen, auf das, was in den Schulen konkret passiert. Was wir da finden werden, wird mit Sicherheit sehr unterschiedlich sein. „Die Lehrer sind ein zivilgesellschaftlicher Schatz“, meint Lassnigg. Das ist richtig. Und auch wieder nicht. „An jeder Schule in Österreich gibt es engagierte Lehrer“ – und es muss wohl nicht diskutiert werden, wie wertvoll ein engagierter (also: interessierter, origineller, integerer, empathischer) Lehrer sein kann. Aber es gibt wohl auch an fast jeder Schule in Österreich Lehrer, die ihr eigener Job eigentlich ankotzt. Die frustriert sind, weil sie sich für den falschen Beruf entschieden haben. Die zu viel Macht ausüben, weil sie sonst kaum Mittel haben, ihre Schüler an den Unterricht zu fesseln. Und das verwundert auch nicht – denn die Lehrerbildung ist nicht immer, aber immer öfter eine höchst mittelmäßige Sache, die nicht eben geneigt ist, selbstständiges und kritisches Denken zu fördern.
Wenn wir mehr Autonomie an den Schulen wollen, brauchen wir auch Menschen, die mit Autonomie überhaupt umgehen können. Zu viele junge Frauen werden Lehrerinnen, weil sie einmal nachmittags zu Hause bei den Kindern sein wollen. Zu viele junge Männer werden Lehrer, weil ein naturwissenschaftliches Studium schwierig, das Lehramtsstudium aber etwas leichter ist. Wieso sind es nicht die Leidenschaftlichen, Weitgereisten, Interessierten, die an die Schulen gehen?
Sie gehen jedenfalls nur selten ans Gymnasium – vielleicht aber an die Neuen Mittelschulen? Das ist jedenfalls der Ansatz hinter dem Programm „Teach for Austria“ , das mit hervorragendem, „anderem“ Unterricht Chancenungleichheit bekämpfen will, und dafür Leute von außerhalb holt. Die können wohl nicht auf Anhieb 240 didaktische Methoden aus dem Ärmel schütteln – aber vielleicht haben sie dafür etwas zu sagen. Ob das Projekt dem eigenen Anspruch gerecht werden kann, ist eine andere Frage. Aber es ist eine Idee und ein Versuch.
Vielleicht ist es nämlich in erster Linie wichtig, dass das Bildungssystem als solches weniger stark in sich geschlossen bleibt, im Großen weniger autonom ist und dass dafür endlich die Schultüren geöffnet werden (und das nicht nur an einem verdammten Tag im Jahr) für das, was in der Welt so passiert.
Neues am Bildungsmarkt
Eine letzte Frage bleibt aber noch: Ist der Ruf nach mehr Autonomie und weniger Ideologie nicht selbst ideologisch motiviert? Das traditionell linke, von Paul Lazarsfeld gegründete IHS hat heute den tiefschwarzen Franz Fischler als Präsidenten – das kann man im rot-schwarzen Bildungskrieg erfrischend finden, es kann aber auch ein ideologischer U-Turn sein.
Schulautonomie ist aber traditionell ein Desideratum der Liberalen, und am allergrößten steht es auf den Fahnen der NEOS. Also: Bildung soll auf den Markt geworfen werden? Soll sich jetzt auch noch die Wirtschaft einmischen? Da ist ja die Gewerkschaft noch besser.
Nun ist aber das Angebot am Markt am Ende immer nur so vielfältig, interessant, klug oder bereichernd wie die Akteure auf diesem Markt. Würden die Menschen einem alten und bewährten Bildungsideal entsprechen und sich etwas mehr um die „höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ bemühen wollen, wäre es vielleicht auch um den Markt besser bestellt. Kann der erste Schritt zu mehr Autonomie im Denken also über mehr Autonomie im Handeln führen? Müssen wir den Schulen, Lehrern, Schülern erstmal mehr Freiheit zumuten, in der Hoffnung, dass sie ihr dann auch gerecht werden?
Vielleicht fehlt uns in erster Linie – und hier ist Lassnigg wieder recht zu geben – ein Konsens darüber, was in der Schule überhaupt erreicht werden soll. Wir sollten uns wohl neben unserer Obsession mit dem Drumherum – und damit ist die Liebe zur Kompetenz, zur Effizienzsteigerung, usw. ebenso gemeint wie die Liebe zu überkommenen Strukturen aus dem 19. Jahrhundert – auch ein wenig fragen, wie das „Wahre, Gute und Schöne“ aus den österreichischen Lehrplänen zu einer möglichst demokratischen Angelegenheit werden kann. Bildung ist schwer messbar, weil sie in erster Linie auf einem Ideal beruht. Wenn wir uns erst einmal darüber überein kommen, was für ein Ideal das sein soll, können wir die Lehrer meinetwegen machen lassen.
Titelbild: (c) Wilhelm Busch