In welcher Zeit leben wir eigentlich? Diese Frage beschäftigt mich in unregelmäßigen Abständen immer wieder. Der Blick in die Vergangenheit ist meist ein klarer, ein eindeutiger und leichter. Die Epochen sind fast auf den Tag genau abgesteckt, analysiert und benannt. Egal ob in der Geschichte, der Kunst oder Politik, alles hat seine Ordnung und auch seine Richtigkeit. Den einzelnen Epochen werden dann Personen zugeteilt. Literaten, Maler, Philosophen, Wissenschaftler, Politiker und andere wichtige Persönlichkeiten. Wer ein Geschichtsbuch aufschlägt, schwebt über der Zeit, kann in wenigen Absätzen Zusammenhänge erkennen, Entwicklungen verstehen und lernt die handelnden Menschen kennen. Im Hier und Jetzt ist das jedoch kaum möglich und genauso schwierig, diffus und unsicher, wie der Blick in die Zukunft.
In welcher Zeit leben wir eigentlich? Welchen Namen könnte man der Epoche Anfang des 21. Jahrhunderts geben? Welche Zuschreibung werden uns spätere Generationen verpassen? Informationszeitalter ist ein solcher Begriff, der immer wieder umhergeistert. Doch wird er sich halten können und was bedeutet er? Informationszeitalter. Hatten frühere Generationen an Menschen einander nichts zu sagen? Gerade die Alten Griechen waren doch unglaublich heiß auf Informationen. Jeder zweite Held machte sich auf in Richtung Delphi, um an übernatürliche Informationen über die eigene Zukunft zu kommen. Oder zu Zeiten von Napoleon. Auch hier waren es die Informationen, die über Sieg oder Niederlage entschieden haben. Wieso also, sollten gerade wir im Zeitalter der Information leben?
Wenn, dann leben wir im Zeitalter der Kanäle. Und durch Kanäle schwimmt nur in den seltensten Fällen sauberes Wasser. Wir haben so viele Möglichkeiten, wie noch nie, um miteinander zu kommunizieren. Musste man früher zu Papier und Tinte, später zum Telefonhörer greifen, war eine gewisse Zeitverzögerung vorprogrammiert. Emotionen hatten Zeit zu sacken, voreilige Schlüsse konnten reflektiert werden. Heute greift man zum Smartphone und schmeißt Eindrücke, Meinungen und Gefühlsregungen just in dem Moment, in dem sie entstanden sind in die Welt hinaus. Manches privat, für eine einzelne Person bestimmt, anderes für alle sichtbar in Vers oder Bildform. Wer via Telefon oder Mail nicht erreichbar ist, wird via Facebook oder WhatsApp angeschrieben. Ein Entrinnen ist kaum mehr möglich.
Wir leben demnach also nicht im Zeitalter der Informationen, sondern im Zeitalter des „Sich Ausdrücken Müssens“. Je geübter der Mensch im Umgang mit den Kommunikationsmöglichkeiten, desto größer scheint der Drang diese auch nutzen zu müssen. Minütlich der Griff in Richtung Smartphone, Status checken. Jede Stunde ein Update über den eigenen Gefühlszustand, die eigenen Taten. Fast scheint es so, als hätten wir die Gabe verlernt in Ruhe zu sein, mit uns selbst zu sein. Was nicht kundgetan wurde, ist nie passiert. Was nicht geteilt wurde, existiert nicht. Leben wir also nur, weil es unser digitales Ich gibt? Sind wir wir selbst oder die Fassade, deren Beliebtheit in Likes, Kommentaren und Followern gemessen wird?
Wir leben in einer Zeit, in der sich jeder um sich selbst dreht. Wir leben in einer Zeit, in der die Inszenierung mehr Wert ist, als der Inhalt. In einer Zeit, in der die Nachfolger der Vorläufer der Nazis (geklaut von Doron Rabinovici, Republikanischer Club) und deren geistige Erben wieder ungeniert Hass und Ängste säen, Wahlen anfechten und auch noch Stimmen gewinnen. Zur gleichen Zeit wünschen sich Uni Absolventen (BWL) nichts mehr, als bei Red Bull, BMW oder Google zu arbeiten oder starten Selbstverwirklichungsprojekte. Wo bleibt der Aufschrei? Wo die Empörung? Wo die Ideen und Lösungen einer heranwachsenden Generation, die sich gegen zerstörerische Strömungen vehement wehren sollte? Denn nur wer in einer friedlichen Welt lebt, hat die Zeit und die Motive, um möglichst viele Likes zu erhalten. Ansonsten werden wir wohl einfach die Epoche der naiven Fantasten oder ignoranten Blinden.
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