Gestern wurde die 1000. Folge der Serie „Tatort“ ausgestrahlt. Für einige Menschen gehört der „Tatort“ zum fixen Bestandteil eines Sonntag-Abends. Daraus ist fast schon ein Ritual geworden. Stunden zuvor kann man außerdem seit geraumer Zeit nachlesen, ob der heutige „Tatort“ etwas taugt. Diverse Online-Medien nehmen Bewertungen vor. Eines davon arbeitet mit Punkten von eins bis zehn. Hat der „Tatort“ 8 Punkte oder mehr sollte man ihn sich vermutlich ansehen. Darunter ist es fraglich, ob sich der sonntägliche Fernsehabend tatsächlich lohnt.
Doch die Online-Meute ist ungehorsam geworden. Obwohl der gestrige Tatort formidable acht Punkte abstaubte, die höchste Wertung seit einigen Folgen wohlgemerkt, war der Online-Mob weitestgehend anderer Meinung. Man hätte nach wenigen Minuten ausgeschaltet. Man hätte die wertvolle Zeit am Sonntagabend mit dieser Schrott-Folge verschwendet. Die Dialoge wären haarsträubend dumm gewesen. Die Folge wurde nicht selten mit dem unschönen Attribut „grauenvoll“ bedacht.
Daran haben wir uns gewöhnt. Das geht schon seit Monaten, höchstwahrscheinlich Jahren so. Die breite Masse stürzt sich auf Filme, die mehr oder weniger künstlerisch wertvoll sein wollen. Der „Tatort“ ist wandelbar und spielt mit Erwartungshaltungen.
Für die 1000. Folge haben sich selbstredend nur wenige Zuschauer ein minimalistisches Kammerspiel erwartet. Bemerkenswert dabei ist, dass so gut wie niemand über filmische Mittel diskutierte. Es wurde nicht diskutiert, wie hier Spannung erzeugt wird. Warum es bei wenigen Leuten funktionierte und diese begeistert waren, während ein sehr großer Teil der Online-Kommentatoren gelangweilt wegschaltete.
Kein Wunder. Es ist mittlerweile breiter Konsens, dass es in der Kunst keine faktische und objektive Ebene gebe. Letztlich sei alles Geschmackssache. Jeder sollen sich seinen eigenen Reim machen. Begriffe wie Können spielen wenig Rolle. Ob ein Musiker gerade einmal wackelig drei Akkorde schrammelt oder sich tatsächlich in mühevoller Arbeit mit der komplexen Welt der Harmonik beschäftigt hat ist sekundär. Erlaubt ist, was gefällt. Nach oben in die Charts gespült wird, was einer breiten Massen zusagt.
So ist es auch erklärbar, dass über den gestrigen Kammerspiel-Tatort auf beschriebene Art und Weise gesprochen wurde. Ein großer Online-Schwarm stürzt sich auf ein Werk, das dieser vorgibt verstanden, interpretiert und bewertet zu haben. In Wahrheit fehlt das Handwerkszeug um das zu tun.
Es ist nicht unbedingt erforderlich, selbst schon mal bei einem Film Regie geführt zu haben, aber es ist kein Schaden, wenn man angesichts des sehr reduzierten Settings des Filmes Vergleichswerte im Kopf hat. Ähnliche Filme. Und selbst wenn es nur Taxi Driver ist. Denn neben dem handwerklichen Können des Regisseurs, des Kameramannes und den weiteren Beteiligten ist auch das eine faktische Ebene. Wie und was zitiert der Film? Wie schlägt er sich im Vergleich zu den zitierten Vorbildern? In welchen Kontext stellt er sich selbst und ist er zu stellen? Das passiert jedoch nicht mehr. Diese Ebene hat immer weniger Bedeutung.
Damit ließe sich leben. Im Zeitalter des Postfaktischen kann nun wirklich niemand erwarten, dass ausgerechnet Kunst fair, sachlich, informiert, klug und versuchsweise faktisch behandelt und abgehandelt wird. Es wird aber sichtbar, wie es um Maßstäbe, Objektivität und „Gehorsam“ den vermeintlich Wissenden gegenüber bestellt ist. Gerade weil Experten den gestrigen Tatort als sehr gut bis hervorragend empor schreiben wollten, wütete der Online-Mob umso mehr. Ein tiefes Misstrauen gegen Ordnungs-, Selektions- und Bewertungskriterien der sogenannten Intellektuellen hat sich breit gemacht.
Man könne ja wohl selbst erkennen, mit dem eigenen „Hausverstand“. Man müsse ja wohl kaum ein medienwissenschaftliches Studium vorweisen, um in Online-Threads über Filme sprechen und und diese bewerten zu dürfen.
Darum spricht zunehmend jeder. Wild durcheinander. Möglichst laut und provokant um auch gehört und gemocht zu werden. Der Unwissende ermächtigt sich somit kurzerhand selbst. Ganz einfach weil er sprechen kann und ihm auch noch zugehört wird. Kompetenz ist kein Maßstab für Zustimmung. Im Gegenteil. Je provokanter, platter und unwissender der Kommentar desto größer ist meist die Zustimmung.
Über die Zusammenhänge darf man sich Köpfe zerbrechen. Gerade wurde mit Donald Trump ein Mensch zum Präsidenten der USA gewählt, der über keine ausreichende politische Erfahrung verfügt um diese Rolle im herkömmlichen Sinne auszufüllen. Er war aber der lauteste und provokanteste Kommentator im Wahlkampf. Provokant äußerte er sich über den vermeintlichen Zustand der amerikanischen Gesellschaft. Welches Erkenntniswerkzeug und welches Wissen er mitbringt, von welchem Standpunkt er exakt ausgeht und ähnliches mehr spielten und spielen keine Rolle. Trump erkennt, weil er erkennt. Er nimmt wahr, weil die anderen nicht wahrnehmen. Er ist im Recht, weil er die Lautstärke erhöht hat und sich im Gebrüll des Wahlkampfes als Alpha-Tier mit dem lautesten Brüllen herausgestrichen hat.
Offenbar reicht das alles. Ein Internet-Zugang reicht aus, um einen Film bewerten zu können und über diesen abfällig zu sprechen. Im postfaktischen Zeitalter reicht es darüber hinaus aus, laut zu sein. Wer die Fakten auf den Tisch legt und fein säuberlich analysiert und interpretiert ist beinahe verdächtig. Der Leise ist seltsam, erratisch, merkwürdig. Er steht unter Verdacht verkopft zu sein. So sehr in seiner Gedankenwelt verstrickt, dass er die Realität an sich nicht mehr erkennt.
Das postfaktische Zeitalter ist damit wohl auch ein Zeitalter des Hausverstandes und des Es-versteht-sich-von-selbst. Eine immer größere Masse gibt vor, dass die Dinge in Wahrheit ganz einfach seien. Dass es die Intellektuellen sind, die sie verkomplizierten und damit dazu beigetragen haben, dass die Wahrheit unter all dem Geraune und Gerede begraben liegt.
Das alles macht ratlos. Müssen sich Menschen, die mehr Kompetenz und Wissen in Bezug auf Filme haben, tatsächlich in „Tatort-Diskussionen“ einmischen und dem lauten Geschrei sensible und fundierte Vernunft gegenüber stellen? Dürfen und sollen Intellektuelle wirklich mit Fakten und Wissen daraus hinweisen, warum es vielleicht nicht so klug war Donald Trump zum mächtigsten Mann der Welt zu machen?
Vermutlich ist es schon zu spät. Längst regiert der „Mob“. Der sich seine Filme selbst interpretiert und sich seine Kunst und Musik selbst aussucht. Der unbelehrbar ist. Der sich seine Präsidenten selbst wählt, auch gegen mediale Vorherrschaft und Empfehlungen. Die Intellektuellen haben auf vielen Ebenen verspielt. Sie sind, unter anderem, von den sozialen Netzwerken obsolet gemacht worden. Was jetzt?
Titelbild: (c) sproutingart, flickr.com