Zwei Begriffe zirkulieren gerade und machen dem Journalismus schwer zu schaffen: Lügenpresse und Postfaktizität. Die behauptete Objektivität gerät dadurch kräftig unter Beschuss. Der Journalist hat redlich, ausgewogen und objektiv zu sein. Trotz dieses Anspruchs wird dem Journalismus in letzter Zeit immer öfter der Begriff „Lügenpresse“ umgehängt. Ein Kampfbegriff, eine Kampfansage. Die Beschuldigung dahinter lautet, dass Journalisten nicht von der Realität an sich berichten würden. Sie würden wichtige Fakten ausblenden und zu Sinnkonstrukten kommen, die mit der eigenen Wahrnehmung wenig bis nichts zu tun hätten.
Dazu ist es erhellend sich die journalistische Praxis, natürlich vereinfacht dargestellt, anzusehen. Ein Journalist geht als Subjekt, also als Mensch mit Vorannahmen und bestimmtem Wissen, an kulturelle, gesellschaftliche und soziale Phänomen heran. Als Subjekt trifft er auf etwas, das sich objektiv ereignet hat und das sich, mehr oder weniger schwer, objektiv beschreiben lässt. Damit das Schreiben einen Anfang finden kann, gilt es Kohärenzen herzustellen. Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Rote Fäden zu finden. Die tatsächliche sinnhafte Geschichte in dem Wust an Sinnlosem und Inkohärentem zu entdecken. Ohne Ausschlüsse ist das unmöglich. Selbst bedeutende Roman-Autoren sind immer wieder an den Versuchen verzweifelt, die Welt in all ihrer Komplexität zu beschreiben und zu fassen.
Exakt diese journalistische Praxis trifft im Heute auf den Vorwurf der Lügenpresse. Die Presse würde gezielt lügen und gezielt Inhalte und Fakten verschleieren, damit das eigene Weltbild nicht kollabiert. Vor allem im Kontext der Migration lässt sich die Häufung des Vorwurfes feststellen. Die „Lügenpresse“ würde zum Beispiel nicht oder zu wenig von den Straftaten der Asylwerber berichten.
Interessant ist aber auch die Tatsache, dass im ausgerufenen Zeitalter der Postfaktizität das „Objekt“ des Journalismus immer schwerer zu fassen ist. Der Journalist hat sich durch „Fakten“ zu wühlen, die womöglich gar keine Fakten sind. Er hat die Quellen, vor allem online, mehr als jemals zuvor anzuzweifeln. Das zu fassende Objekt und das zu beschreibende objektiv stattgefundene Ereignis zerrinnt ihm mehr und mehr zwischen den Fingern.
Wie darauf reagieren? Es ist jedenfalls kein Zufall, dass in diesen Zeiten der Meinungsjournalismus wieder Aufschwung erhält. Es handelt sich dabei nicht um die Kapitulation vor der Unübersichtlichkeit der Lage, sondern um eine adäquate Reaktion darauf. Während sich der rein auf Objektivität abzielende Journalismus immer mehr Vorwürfe dahingehend gefallen lassen muss, dass er gar nicht objektiv sei, stellt der Meinungsjournalismus Personen und damit Subjekte in den Mittelpunkt. Unter Umständen und im besten Fall sind das kluge und gebildete Menschen, die aber teilweise ebenfalls, so wie der „kleine Mann“ der Lügenpresse-Vorwürfe erhebt, an der derzeitigen Unübersichtlichkeit und Komplexität verzweifeln.
Trotz dieser Verzweiflung schreiben sie. Nicht aus Selbstzweck. Sondern aus der kühnen Annahme heraus, dass Meinungen Orientierung bieten und als Rahmen dienen können, um Teile der „Realität an sich“ erkennen zu können. Ein ganzes, umfassendes Bild werden wir nie mehr von der Welt haben. Aber gute Journalisten mit Meinung nehmen uns an der Hand, erklären uns Zusammenhänge und bieten uns ihre eigenen, redlichen und auf Objektivität abzielenden, Sinnkonstrukte und Leseweisen der Welt und der derzeitigen Phänomene an.
Spätestens damit bricht der Vorwurf der „Lügenpresse“ in sich zusammen. Kein Journalist, zumindest kein guter, lügt vorsätzlich. Es ist aber gut möglich, dass es ihm, mit den limitierten Mitteln die ihm sein Wissen und seine Lebenserfahrung zur Verfügung stellen, schlicht nicht möglich ist die „Wahrheit“ zu schreiben. Wer sich als Autor, als Subjekt, als Journalist in seine Texte einschreibt stellt die Behauptung auf, dass er vielleicht nicht alles versteht, mit jedem Satz aber den gewagte Vorsatz hat, einen Teil der Realität zu beschreiben und in komprimierter Form auf den Punkt zu bringen.
Die journalistische Praxis ist somit keineswegs veraltet oder gar unwichtig geworden. Immer noch gilt es redlich und objektiv zu berichten. Die Reportage und der „objektive“ Bericht ist nicht tot. Mit verstärktem Meinungsjournalismus ließe sich aber den Vorwürfen begegnen, man würde lügen. Die „Lügner“ bekämen zunehmend ein Gesicht und würden sich weniger hinter Texten verstecken. Sie würde sich selbst als Personen offen legen. Mit Einblicken und Weltanschauungen. Mit Vorannahmen und Wünschen. Die Konflikte und der leidvolle und schwierige Prozess der objektiven Berichterstattung würde sichtbar werden. Das wäre für alle heilsam. Für die Journalisten selbst. Aber auch für die Lügenpresse-Rufe.
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