Wenn Bärte die Lokal-Szene in Innsbruck übernehmen

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Neulich war ich in einem neuen Lokal in der Innsbrucker Anichstraße. Auf die Frage von F. , wie es da so gewesen sei, antwortete ich kurz: „Viele Bärte.“ Diese Antwort soll keinesfalls Bartträger diskriminieren. Denn darum geht es nicht. Es geht darum den Bart, pars pro toto, zu lesen, zu verstehen und ihn als Schlüssel zu einem besseren Verständnis des Innsbrucker Zeitgeistes zu benutzen.
Der Bart signalisiert seinem Wesen nach eine gewisse Nachlässigkeit und Lässigkeit. Wer einen Bart trägt, hat sich schon längere Zeit nicht mehr rasiert. Wer sich nicht mehr rasiert, der hat Zeit um andere Dinge zu machen, zum Beispiel kreativ sein und Konzepte für neue Lokale in der Tiroler Landeshauptstadt entwerfen. Die Lässigkeit des Bartes kommt diesen Konzepten entgegen. Denn wo Bärte sind, sind immer auch andere Bärte. Bärte ziehen sich an. Hängen lässig und locker zusammen ab. Bart und Bart gesellt sich gern.
Bart ist nicht nur Mode, sondern Erkennungsmerkmal. Auffällig oft wird er derzeit von jungen Männern getragen, die aus dem Großraum München kommen. Es ist somit plausibel anzunehmen, dass der zur Schau gestellte Bart eigentlich ein kultureller Code ist, anhand dessen sich junge und urbane Bayern in ihrer Diaspora finden und erkennen. Der Bart stiftet Gemeinschaft, gibt Halt und Sinn. Statt einsam ohne Bart zuhause zu sitzen trifft man sich in Cafés, kommt sofort ins Gespräch und entwickelt gemeinsam und mir vereinten Bart-Kräften Ideen für neue Clubs oder Cafés in Innsbruck. Bart und Bart potenziert den Einfallsreichtum.
Bärte sind selbstbezüglich und legitimieren die selbst behauptete Kreativität und Originalität. Bärte stehen für Kreativität und Einfallsreichtum, weil sie für Kreativität und Einfallsreichtum stehen. Das ist eine wunderbare Tautologie, über die lokale Medien in regelmäßigen Abständen berichten. Man berichtet darüber, weil man darüber berichtet. Wer es nicht tut, ist ein Barthasser und weder kreativ noch originell. Bärte generieren Ein- und Ausschlüsse.
Trends und Bärte sind eine unzertrennliche Einheit. Wer „Innsbruck für Trendsetter“ und die neusten vier Lokale kennen lernen möchte sollte Bärte mögen oder bestenfalls selbst einen tragen. Auch als Außenseiter lässt sich so ein Lokal natürlich betreten. Über verwunderte und leicht abschätzige Blicke darf man sich dann natürlich nicht wundern.
Der Bart ist nicht nur reine Oberfläche und Äußerlichkeit, sondern kommt aus der Innerlichkeit der eigenen Einstellung und Haltung heraus. So ist es denkbar, dass ein Bartträger den anderen Bartträger erkennt, auch wenn dieser noch gar keinen Bart trägt. Ein Bart ist das, was potentiell möglich ist. Er bringt das kreative und trendbewusste Innere des damit verbundenen Menschen am besten zum Ausdruck.
Bart ist nicht nur ein Bart, sondern ein Lebensgefühl. Ein Bart ist niemals abgeschlossen. Er wächst, muss wieder gekürzt werden, wächst wieder. Bart tragen bedeutet, sich mit dem Temporären und Veränderlichen anzufreunden. Dieses Bewusstsein, einer Substanz-Ontologie diametral entgegengesetzt, zeigt sich im Ambiente der Bart-Lokale. Weniger ist mehr. Alte Einrichtungen werden entsorgt und meist durch wenig mehr als Tische und Lampen ersetzt. Manches Lokal gibt sich nicht einmal einen fixen Namen. Alles ist im Wandel, nichts dauerhaft. Panta Rhei.
Man tut gut daran sich zu arrangieren. Mit den Bärten und den damit einhergehenden Lokalen. Womöglich kann man sich ein wenig im Glanz der hyper-kreativen Bartträger sonnen und innerlich bereichern lassen. Dann würden auch die eigenen Ideen nur so sprudeln. Und Innsbruck wäre bald um ein weiteres Burger-, Sandwich-, Burrito-, Upcyling-, Craft-Bier-Lokal reicher. Es würde der Stadt mehr als nur gut tun.

Hier geht es zu der vorherigen Folge von "Kleingeist und Größenwahn".

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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