Über die lauernde Gefahr von Eiszapfen

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Die Gefährlichkeit des Eiszapfens wird gemeinhin unterschätzt. Dabei warnt uns der Eiszapfen auf recht plakative Weise, erinnert seine Form doch an die eines Dolches. Alljährlich, wenn die Temperaturen sich nach unten bewegen und die Natur zu glitzern beginnt, hängen sie an allen Ecken und Kanten. Während der Durchschnittsbürger durch die Straßen wandelt, unbescholten und meist im Schatten eines hohen Hauses, thronen die eisigen Burschen hoch oben über ihren Köpfen. Dort genießen sie einen wunderbaren Ausblick, der ihnen eine Weitsicht garantiert, von der wir hier herunten nur träumen können. Dieser Unterschied ist es, der sie so gefährlich macht. Wären wir, die Normalos und die Eiszapfen auf einer Ebene, wäre alles anders. Dann bräuchte niemand mehr fürchten, dass ohne, dass er – oder auch sie – es kommen sieht, aus heiterem Himmel, von eben dort, ein silbern funkelnder Dolch nach unten rauscht und einem den Schädel spaltet. Frühwarnung gibt es dabei leider keine. Selbst die beste Vorbereitung hilft nicht. Alles Wissen über physikalische, mechanische und chemische Prozesse ist absolut nutzlos. Nur der Eiszapfen selbst weiß – oder spürt er es? – wann er nach unten schnellt und mit aller Kraft das Leben eines Einzelnen oder gleich Mehrerer für immer verändert.
Und dabei sind es nicht nur die Eiszapfen hoch über unseren Köpfen, die gemeinhin unterschätzt werden und als äußerst gefährlich einzustufen sind. Wir müssen uns schon an die eigene Nase fassen, um jegliche Gefahr zu bannen. Wenn man als einfacher Mensch so im Schatten der hohen Häuser und in steter Gefahr von oben herab erschlagen zu werden, durch die Straßen schleicht, ist die wohl größte Gefahr am allernächsten. Sie verfolgt uns auf Schritt und Tritt, wie ein lästiger Geruch, den nicht einmal das intensivste Parfum zu verdecken mag. Mikroskopisch klein, fast unsichtbar, hängen an ausgewählten Nasenspitzen all zu gerne die Brüder und Schwestern der großen Zapfen. Es ist nämlich so. Wenn es draußen so kalt ist, dass das Wasser in sekundenschnelle friert und der Mensch oft zwischen draußen und drinnen wechselt, bildet sich sogenanntes Kondenswasser. Das rinnt einem dann aus der Nase, wie die Tropfen aus einem undichten Wasserhahn. Kaum verlässt man die wohlige Wärme des Eigenheims und steigt in die eisige Luft, gefrieren diese Tropfen. Zumindest bei Menschen, die all zu gerne die Contenance bewahren und darauf verzichten, sich hemdsärmlig die paar Tropfen von der Nase zu wischen. Wer darauf verzichtet, dem gefriert das Hirn, noch bevor er sein stoffernes Taschentuch aus dem Lammfellmantel ziehen kann. Und ein gefrorenes Hirn ist ähnlich ungünstig, wie ein gespaltener Schädel.
Wie so oft auf dieser Welt, sind die gefährlichen Dinge in ihrem Kern jedoch recht schlicht und unspektakulär. Trotz des furchterregenden Aussehens und der Fähigkeit Hirne einzufrieren, ist ein Eiszapfen nichts anderes als Wasser. Wasser, das seine ureigenste Fähigkeit, die Fähigkeit zu fließen, eingebüßt hat. Es ist still geworden. Erhärtet. Unmöglich an neue Orte zu gelangen. Neue Blickwinkel zu erleben. Für erhärtetes Wasser geht es nur noch in eine Richtung, nämlich nach unten. Gänzlich ohne Umschweife. So lange die Kräfte reichen, um sich an der Dachrinne oder Nasenspitze festzuklammern, so lange kann die Aussicht noch genossen werden. Aber wehe, wenn die Kräfte nicht mehr reichen. Dann wirkt die Gerechtigkeit – im Namen Gravitation – die für uns alle gilt und zieht selbst den stolzesten, den wissendsten, den mächtigsten Eiszapfen rasch nach unten. Und auch wenn unten ein unbescholtener, unschuldiger und unwissender Schädel auf seine Spaltung warten könnte, sicher ist nur eines. Der Eiszapfen, er wird zerbersten.

Hier geht es zu der vorherigen Folge von "Kleingeist und Größenwahn".

 

Glaubt an das Gute im Menschen. Eigentlich Betriebswirt. Hat das ALPENFEUILLETON ursprünglich ins Leben gerufen und alle vier Neustarts selbst miterlebt. Auch in Phase vier aktiv mit dabei und fleißig am Schreiben.

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