Als "Die Lochis" das Kinderzimmer eroberten und ich als Vater verzweifelte

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Nichts ist mächtiger als eine Band, deren Zeit gekommen ist. Ohne Rücksicht auf Verluste sucht sie sich ihren Weg. Sie nistet sich zuerst in den Köpfen einzelner Kinder ein. Von diesen ausgehend verbreitetet sie sich rasend schnell. Manifest wird die Band-Liebe bereits nach kurzer Zeit. Bald hat sie sich in das kollektive Bewusstsein einer ganzen Schulklasse eingeschrieben. Somit ist von einer Inkubationszeit von wenigen Tagen auszugehen.
Die Schrift ist bei alldem von größter Wichtigkeit. Sie ist den Schülerinnen und Schülern dabei behilflich, den Bandnamen nicht zu vergessen. Sodann kommen einzelne betroffene Kinder nach Hause, erzählen von der neuen und angesagten Band und bitten unbedarfte Eltern darum, den grundsätzlich dämlich aber doch harmlos klingenden Namen „Die Lochis“ auf einer Video-Plattform einzugeben. Immerhin seien kürzlich ein paar Schulkolleginnen bei einem Konzert von ebendieser Band gewesen. Begeistert kamen diese zurück.
Als toleranter Vater vermutet man zuerst und überhaupt nichts schlimmes. Alles lässt sich aus der Musikgeschichte heraus erklären und in dieser verorten. Früher dröhnte eben „She Loves You Yeah Yeah Yeah“ aus den Kinder- und Jugendzimmern dieser Welt. Eltern, die hofften, dass ihre Kinder schon in frühen Jahren den Weg zu Mozart, Wagner und Bach finden würden waren enttäuscht und entrüstet. Auch ich hatte insgeheim die Befürchtung, dass meine Maßnahmen zur musikalischen Früherziehung wenig fruchten würden. Der John-Zorn-Mittwoch und der Stockhausen-Sonntag waren letzten Endes hilflose Versuche der musikalischen Verflachung der Gegenwart entgegen zu treten.
Die Hoffnung, dass meine Versuche der Erweiterung der Hörgewohnheiten des Nachwuchses zumindest ein wenig fruchteten war dennoch meist aufrecht. Obwohl natürlich manches, das an Musik aus dem Kinderzimmer drang, ernsthaft Anlass zur Sorge gab. Dass aber alles umsonst war hätte ich nicht gedacht. Zumindest bisher.
Als ich den Namen „Die Lochis“ eingab war mir nicht bewusst, was mich erwartete. Hinter dem Titel „Sonnenschein“ vermutete ich ein harmlos-seichtes Mitträller-Pop-Liedchen. Musikalisch war es das auch. Musikalisch seicht aber höchst eingängig wurde zu wenig originellen Akkord-Mustern und Harmonien unterdurchschnittlich gut gesing-sangt. Vorgetragen wurde das alles von zwei Zwillings-Brüdern in der späteren Pubertät. Der Refrain verfolgt mich bis heute: „Du musst ein Arschloch sein, wooho! Dann ist dein Leben voller Sonnenschein“! Im Video sieht man unter anderem einen jungen Mann, der sich in Warteschlangen eher unsanft vordrängt und der eben obige Weisheit ganz grundsätzlich befolgt.
Die Logik des Spätkapitalismus hatte also auch in der Musik Einzug gehalten. War früher Friede, Freude, Eierkuchen und ein bisschen Sex im Fokus der Musikschaffenden, so ist es heute Egoismus, Aggression und Selbstbezogenheit.
Obwohl geschockt ließ ich mich noch zu einem zweiten Lied überreden. Hinter dem Titel „Ab geht´s“ stellte ich mir ein Lied vor, das auf kindlich-jugendliche Weise das Thema Welt entdecken und Party machen thematisierte. Abermals irrte ich mich. Da wurden Freundinnen dazu überredet doch zur Party mitzufahren und in den Bus der Zwillings-Jungs einzusteigen. Recht eindeutig machte der Text klar, dass das eine geile Nacht werden und die besagten Mädchen heute Nacht ganz sicher nicht allein sein würden.
Unterstrichen wurde diese Botschaft durch den Blick der Kamera. Das Mädchen, in das sich der Protagonist im Video ganz offensichtlich verliebt, ist nach einem Video-Schnitt am Strand zu sehen. Natürlich nicht im züchtigen Badeanzug, sondern im durchaus erotischen konnotierten Bikini.
Die Kamera-Perspektive suggeriert, dass der junge Mann seiner Herzensdame eher nur kurz ins Gesicht schaut, zumal die Kamera nach wenigen Augenblicke in Richtung Unterkörper schwenkt. Die Neugierde des spät-pubertären Burschen richtet sich somit nicht auf die inneren Werten, sondern auf das, was sich unter dem Bikini-Höschen befindet. Da geht es nicht mehr um „Zeig du mir deins, dann zeig ich dir meins“, sondern da wird schon ein wenig weiter gedacht und angedacht, was zwischen junger Frau und jungem Mann schon so alles möglich ist.
Nun gehe ich davon aus, dass es noch mehrere Lieder von den „Lochis“ gibt. Doch ich schaffte kein weiteres Lied mehr. Ich hatte genug gehört.
Ganz grundsätzlich lässt sich natürlich sagen, dass solche Zielgruppen-Musik tatsächlich einen Beitrag dazu leisten kann, die Pubertät gut zu überstehen. Nicht jeder muss sich mit der Lektüre von Jean-Paul Sartre und „Der Ekel“ in diesem Alter in eine existenzielle Krise stürzen. Weiters ist die Wirkung von Nietzsche im Alter zwischen 15 und 18 zumindest umstritten. Womöglich ist der Rat, sich mit Abgründen zu beschäftigen und damit selbst ein Abgrund zu werden gar nicht so klug. Unter Umständen sind jungen Menschen Themen wie Liebe, Zärtlichkeit und erster Sex tatsächlich näher. So soll es sein.
Ein Problem bleibt aber: In der irrationalen Welt der ständigen Markt- und Zielgruppenerweiterungen zur Gewinnmaximierung schießt der entfesselte Markt immer öfter am Ziel vorbei. Kinder mit 6 Jahren tragen Star-Wars-Schultaschen und haben bereits alle Star-Wars-Film gesehen. Damit wird nicht nur die philosophische Tragweite dieser Filme verkindlicht, sondern auch ignoriert, dass sich die Filme mit dem Thema Krieg beschäftigen. Ähnlich bei den „Lochis“. Niemand bezweifelt, dass ihre Musik bei einem weiblichen Publikum zwischen 13 und 16 ihre Wirkung entfalten kann. Niemand verbietet es jungen Mädchen, von pickeligen Jungs zu träumen. Ob aber Kinder mit 8 Jahren gut bei ihren Konzerten aufgehoben sind möchte ich anzweifeln.
Aber vielleicht verstehe ich einfach alles falsch. Und reagiere wie damals die Eltern auf die Beatles und die Rolling Stones reagiert haben. Höchstwahrscheinlich findet jede Generation Mittel um Eltern aus der Fassung zu bringen. Ich hätte mir nur gewünscht, dass die Mittel weniger platt und anzüglich gewesen wären wie bei den „Lochis“.

Titelbild: (c) Webvideopreis Deutschland, flickr.com 

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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