Das mit der Kritik ist ja bekanntlich eine bierernste Sache. Es soll, nach Maßstäben der journalistischen Ethik und nach Grundsätzen der Redlichkeit, berichtet, analysiert, bewertet und eingeordnet werden. Der Leser soll nach der tiefgehenden Lektüre des überzeugenden Kritik-Traktates eine Art unverbindliche aber sehr plausible Anleitung dazu haben, wie er kulturelle, soziale und kulinarische Phänomene rezipieren und genießen könnte.
Eine Sonderform der Kritik ist die Restaurantkritik. Als Kritiker kann man dabei gar nicht so viel fressen, wie man schreiben könnte. Bevor der Restaurantkritiker nicht in abertausenden Lokalen gegessen hat darf er es gar nicht erst wagen seine Füllfeder zu erheben und zum Schreiben anzusetzen oder seinen Laptop zu öffnen. Erst nachdem ebendieser sämtliche Köstlichkeiten und Extravaganzen der Welt genossen und auf sämtliche Bestandteile hin untersucht hat, darf dieser es wagen eine Kritik zu verfassen und zu veröffentlichen. Erst dann wenn alles verstanden und probiert ist, darf sich der Kritiker zu Scharfzüngigkeit oder pointierten und manchmal bösartigen und abschätzigen Bewertungen hinreißen lassen.
Diese absolut wünschenswerte Form der Restaurantkritik hat in Zeiten des „Jeder-ist-Schreiber“ starke Konkurrenz bekommen. Feinfühlige und fast schon wissenschaftlich zu nennenden Texte von Fachmännern und Fachfrauen, die jede kleine Geschmacksnuance zu beschreiben in der Lage sind, sind in eine echte Bedrängnis geraten. Statt sich mit der unendlichen Welt der Geschmäcker zu beschäftigen wird auf Online-Plattformen die Sache ein wenig anders angegangen. Formulierungen wie „Dieses Essen würde man nicht mal Schweinen vorsetzen“ oder „Die Schande Innsbrucks“ sind keine Seltenheit und mögen exemplarisch für die Veränderung des Tons in der Jetzt-Zeit gelten.
Nun könnte man die Moralkeule schwingen und Joseph Beuys und Andy Warhol ins Spiel bringen. Und sagen, dass sich diese im Grab umdrehen würden, wenn sie wüssten wie ihre impliziten und expliziten Konzepte im Heute nachwirken. Es wäre naheliegend festzustellen, dass Menschen ohne schreiberische und intellektuelle Begabung ihre Wut auf Alles und Jeden absondern oder damit sogar die Existenz von Restaurants leichtfertig aufs Spiel setzen.
Doch diese Betrachtung wäre vereinfachend. Vielmehr sollte man solche „Kritiken“ mit der Funktion des „Darknet“ vergleichen. Lässt man Menschen erst einmal los und gibt ihnen sämtliche Freiheiten, brechen Wut, Aggression und Abartigkeiten nur so aus ihnen hervor. Das ist nicht immer schön, aber nur logisch. Würde jemand ernsthaft die kathartische Wirkung von „Sau“, „Arschloch“, „Fotze“ oder „Essen für Schweine“ in Zweifel ziehen? Eben.
Die Zeiten der Verfeinerung und der Subtilität sind, Gott sei Dank, endlich vorbei. Seit einiger Zeit regiert der Hass, die Wut und die undifferenziert ins Netz gebrüllte Meinung. Wer da angesichts von Beleidigungen, Drohungen und Beschimpfungen jammert, hat das Prinzip nicht verstanden. Wir brüllen uns neuerdings alle gesund und lassen all unseren kranken Persönlichkeitszügen völlig wahllos freien Lauf. Die Folge ist, wenn uns denn endlich diese verdammte Trennung zwischen Realität und virtueller Müllhalde gelingt, eine zutiefst gesundete und ausgeglichene Gesellschaft, die ihre Wut im virtuellen Raum lässt.
Wir als Kritiker können nur eine Konsequenz daraus ziehen: Wir müssen unsere Hemmungen und unsere Verklemmtheit endlich hinter uns lassen! Es würde uns so gut tun. Unser unterdrückter Hass und unsere nicht eingestandene Wut auf den Schweinefraß von gestern (!!!!11111) wird sich ohnehin rächen und irgendwie und irgendwann völlig unkontrolliert aus unser hervorbrechen. Also wäre es sehr ratsam, kontrolliert die Kontrolle zu verlieren – und das mit der feinen Kritik, den Analysen und den Bewertungen sein zu lassen und einfach mal die Sau rauszulassen. Es ist Zeit, verdammte Scheiße noch mal!
Hier geht es zur vorherigen Folge von "Kleingeist und Größenwahn".