Schon wieder wird eine Jazz-Session in der selbsternannten Hauptstadt der Alpen angekündigt. Gefühlt gibt es damit derzeit rund fünf Sessions in diesem Kontext. Tatsächlich sind es weniger, zumal drei der gefühlten fünf bereits gescheitert sind. Kein Wunder. Auf erstere Veranstaltung bin ich überhaupt erst dadurch aufmerksam geworden, weil sich ein Bekannter via Social-Media über den mangelnden Besuch bei der letzten Session aufregte.
Fast zeitgleich beklagt sich ein befreundeter Musiker darüber, dass sich seine Alben kaum mehr verkaufen. Er stellt den Sinn von seinen zahllosen Veröffentlichungen in Frage. Er fragt sich, ob er diese Alben nicht nur aus einem Gedanken der Profilierung veröffentlicht.
Schon länger gibt es die Tendenz, vor allem und auch in der improvisierten und teil-improvisierten Musik, dass Prozesse und Entwicklungen eines Musiker mittels Alben-Veröffentlichungen dokumentiert werden. Interessierte Hörer können den Schritten ihrer präferierten und verehrten Musiker folgen und sich deren aktuellen Entwicklungstand, quasi als temporär stillgelegter Entwicklungsprozess, ins Platten-Regal stellen.
Beide Phänomene haben das Problem der rasant sinkenden Aufmerksamkeit. Jazz-Sessions klagen über Besucher-Schwund, Platten mit improvisierter und teil-improvisierter Musik über Hörer- und Käufer-Verlust. Protagonisten beider Kontexte wundern sich darüber.
Dabei fällt die Analyse der Situation eigentlich leicht. Plattenveröffentlichungen, die Prozesse eines Musikers dokumentieren wollen und Live-Situationen betonen, stehen der Forderung ein fertiges Produkt in den Händen halten zu wollen diametral entgegen. Nicht umsonst betonen Mainstream-Musiker so oft wie möglich, dass das neue Album aber nun wirklich das ultimative Band-Album ist und sowieso das beste sei, was sie jemals aufgenommen hätten. Der Musik-Konsument will zunehmend perfekte Produkte in den Händen halten. Zumindest aber Produkte, welche die Aura der Endgültigkeit und Perfektion ausstrahlen.
Jazz-Sessions leiden unter dem gleichen Problem. Hier werden nicht fertige Schemata wiedergegeben, sondern die Fallhöhe des Augenblicks betont. Jede gute Session ist ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Die kommerzielle Aufführungspraxis verlangt aber stattdessen eine möglichst perfekte Reproduktion des Album-Produktes.
Es läge somit nahe eine Art „Ästhetik-Kampf“ zu forcieren. Auf der einen Seite der sich bekämpfenden Gruppen stünde eine strikt kommerzielle Album- und schimärenhafte Perfektionsästhetik, während die andere Seite das Prozesshafte, Unperfekte und Abenteuerliche betonte. Doch so lässt sich der „Kampf“ nicht führen.
Zu viele Jazz-Sessions und zu viele Veröffentlichungen haben einer hehren Idee nicht unerheblichen Schaden zugefügt. Sie haben die Abenteuerlust zu Beliebigkeit verkommen lassen. Ständiges Abenteuer läuft sich tot und wird Routine. Ständige Experimente werden zur Normalität. Jazz-Sessions müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, zum reinen Abenteuer-Spielplatz für studierte Jazz-Musiker verkommen zu sein. Die Veröffentlichungsflut muss sich dem Vorwurf stellen, tatsächlich nur der Profilierung des jeweiligen Musikers zu dienen und nicht dem Hörgenuss eines interessierten Musikhörers.
Wenn es so weiter geht, ist der Kampf gegen die kommerzielle Ästhetik bald endgültig verloren. Jazz-Sessions dürfen nicht zum reinen Ausprobier-Ort für Musiker werden, sondern müssen verstärkt auch etwas über die Gegenwart der (Musik)welt erzählen und sich den drängende Fragen der Jetzt-Zeit stellen. Plattenveröffentlichungen dürfen nicht rein der Profilierung dienen, sondern müssen gute Argumente dafür finden, warum just dieser Entwicklungsschritt des jeweiligen Musikers einer Dokumentation würdig ist.
Es muss jetzt darüber nachgedacht werden, bevor es zu spät ist. Wir brauchen nicht noch mehr Jazz-Sessions in Tirol. Wir brauchen nicht noch mehr Alben, die rein für das Archiv für Ultra-Fans produziert werden. Wir brauche mehr Sinn, mehr Intention und mehr Reflexion, warum eigentlich getan wird, was getan werden muss.
Titelbild: (c) Juan Diego Marin, flickr.com