Das Telefonieren ist ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, in denen eine Art von Präsenz-Ontologie im Zentrum des menschlichen Denkens stand. Kunst war damals nicht einfach nur Kunst. Bilder wurden zur Ehre Gottes gemalt, Musik diente zur Verehrung des Herrn. Damit nicht genug. Wenn der Betrachter und Zuhörer des Kunstwerkes nur gläubig, fromm und spirituell genug war, konnte er Gott selbst im Bild und in der Musik begegnen.
Mit diesen Denkmustern geht die Vorstellung einher, dass es so etwas wie „reale Gegenwart“ in Kunstwerken gibt. Der Kern eines Kunstwerkes muss nur entschlüsselt werden, und schon kann man göttliche Präsenz spüren. Wer glaubt, dass der Glaube an eine universelle Schönheit als Kern der Kunst erst später kam, der irrt. Gott war das Schöne, Wahre und Gute schlechthin.
Als dieses Denken zum alten Eisen gehörte blieb nicht einmal mehr die Schönheit übrig. Universelle Kategorien fielen. Alles wurde zur Geschmackssache. Menschen machten sich nicht mehr die Mühe nach der „realen Gegenwart“ in der Kunst zu suchen oder überhaupt etwas zu suchen. Die Kunstrezeption wurde seichter. Wonach hätte man auch suchen sollen und warum bitteschön hätte man sich diese Mühe machen sollen?
Danach wurde Kunst zur Bespaßung und zur reinen Unterhaltung. Auch wenn die Hermeneutik die semi-religiöse Sinnsuche etablieren wollte, blieb die Motivation der Kunstbetrachter doch eher bescheiden. Irgendwann gab es nur mehr die Oberfläche und keine Tiefe mehr. Vor dem Bild trat man nicht mehr demütig hin, sondern wahlweise respektlos oder distinktionsgeil. Die alten Zeiten sind also vorbei.
Die „Telefonmenschen“ halten das Erbe der Präsenz-Ontologie hingegen hartnäckig aufrecht. Sie misstrauen dem „oberflächlichem“ geschriebenen Wort, das auch missverstanden werden kann. Die Telefonmenschen fragen einen nach längerem E-Mail-Verkehr, ob man nicht lieber telefonieren wolle. Schließlich ließe sich, so glauben und behaupten sie, in einem Telefonat alles viel besser klären. Letzten Endes ist das aber nur ein Vorwand.
Diese Menschen glauben, dass die Wahrheit und die „reale Gegenwart“ nicht im uneindeutigen Text, sondern im gesprochenen Wort liegt. Durch den Klang der Stimme und den damit verbundenen Indizien könne man die „Wahrheit“ besser erkennen. Auch wenn den Telefonmenschen das gar nicht bewusst sein mag, rufen sie damit ein altes, zutiefst religiöses Denkmuster auf. Die Wahrheitssuche im gesprochen Wort ist in enger Verbindung mit dem Glauben daran, dass sich Gott in jedem Menschen finden lässt. Zumindest ein göttlicher Funke ist auch bei oberflächlicher Analyse und Suche allemal drin.
Ich hingegen mag mich nicht in diese Denkweise drängen lassen. In mir ist rein gar nichts zu finden außer mein Hass auf diese Telefonmenschen, der Tag für Tag wächst. Immer und immer wieder versuchen sie es. Fragen mich, ob man nicht doch telefonieren solle. Zunehmend hartnäckig weigere ich mich. Ich schreibe zahllose und kryptische E-Mails, an denen sich selbst hermeneutisch geschulte E-Mail-Leser die Interpretations-Zähne ausbeißen. Klingelt dann verstärkt das Telefon, nehme ich nicht ab.
Das heißt nicht, dass ich mich für Kunst und Texte ausspreche, die reine Oberfläche und reine Bespaßung sind. Es ist die pure Lust am Vexierspiel. Es gibt keinen letzten Sinn und keinen göttlichen Funken in mir. Aber man muss die Telefonmenschen glauben lassen, dass es doch im Bereich des Möglichen liegt. Das lässt sie verzweifeln und macht mich glücklich.
Letzten Endes möchte ich ihnen damit eine neue Art der Kunst- und Textrezeption beibringen. Ohne Gott, ohne Sinn, ohne Wahrheit. Zugleich muss auch mit der zunehmend oberflächlichen Beschäftigung mit Kunst und Text Schluss sein. Ich plädiere für das leidenschaftliche eintauchen in ein Kunstwerk, das keinen Anfang und kein Ende, keinen Beginn und kein Ziel kennt. Ich plädiere für Mut statt Demut. Für Abenteuerlust statt Respektlosigkeit. Denn auch im Heute kann man sich noch in Kunstwerken verlieren, ganz ohne Gott und „realer Gegenwart“.
Ich bin mir sicher, dass die Telefonmenschen gegen meine Revolution in Sachen Kunstbetrachtung arbeiten. Sie wollen Aussagen festlegen und Wahrheiten finden, wo wir uns doch endlich die Freiheit nehmen könnten in ein unendliches Spiel der Bedeutungen einzutreten. Es lebe der Text! Es lebe die Kunst! Nieder mit den Telefonmenschen!
Hier geht es zur vorherigen Folge von "Kleingeist und Größenwahn".