Weshalb Marine Le Pen gewinnen wird und Europa in den Abgrund reißt

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Wusstet ihr schon, dass Frankreich gewählt hat, die rechtsextreme Marine Le Pen nur knapp zweite geworden und somit in die Stichwahl eingezogen ist? Wusstet ihr außerdem, dass Kendrick Lamar mit „Damn“ vermutlich das Hip-Hop-Album des Jahres veröffentlicht hat? Dann wisst ihr sicher auch, dass in Österreich unfassbar viele Menschen alkoholkrank sind. Damit seid ihr auch schon mittendrin in der wunderbaren Welt der Superlative und Zahlenspiele. Willkommen außerdem in der Welt der Nachrichten für die Massen.
Um diese konstruierte Welt der behaupteten Relevanz zu verstehen muss man ganz basal beginnen und bei der menschlichen Wahrnehmung ansetzen. Nehmen wir dazu den Flaneur, der durch die Straßen einer Stadt streift. Manche Phänomene, Bauwerke oder Menschen werden ihm auffällig, andere nicht. Er selektiert, nimmt nicht alles wahr um die Überfülle der Eindrücke zu reduzieren.
Transferiert man dieses Bild des Flaneurs auf den Konsumenten von Medien, so zeigt sich eine ähnliche Tendenz. Zeitungen werden punktuell gelesen, Schlagzeilen müssen ins Augen springen, Themen müssen unmittelbar betreffen oder betroffen machen.
Es lässt sich zwischen „starken“ und „schwachen“ Nachrichten unterscheiden. Die „starken“ Nachrichten betreffen mich, erschrecken mich, erwecken in mir das Gefühl, dass tatsächlich etwas nennenswertes passiert ist, das uns alle betrifft. Mit diesem Thema muss ich mich tiefer beschäftigen, diese Platte muss ich mir auf alle Fälle anhören und die Zahlen der absolut irrwitzigen Anzahl von alkoholabhängigen Menschen muss ich demnächst als Fakt in einem Gespräch einbringen.
Die „schwachen“ Nachrichten funktionieren anders. Sie verfügen über keinen reißerischen Aufmacher, machen nicht sofort betroffen und zwingen den Leser nicht zur sofortigen Beschäftigung um beim nächsten Small-Talk up-to-date zu sein. Sie stehen da als optionale Beschäftigung und als Einladung tiefer einzutauchen. Es sind schöne Marginalien, Nebensächlichkeiten, Obskuritäten und Nischen-Themen.
Das Verhältnis dieser beiden Nachrichten-Typen ist nicht komplementär. Die „starken“ Nachrichten überbrüllen und übertönen die „schwachen“ Nachrichten. Es ist einfacher sind mit dem Rap-Meisterwerk des Jahres 2017 beschäftigt zu haben als sich mit einer obskuren, nischigen Band auseinanderzusetzen die fast niemand kennt. Es ist leichter bei einem Gespräch eindrucksvolle Zahlen zu präsentieren als auf diesen herausragenden, differenzierten Beitrag zum Thema aus dem Jahr 2016 zu verweisen, den kaum jemand gelesen hat.
Konsumieren wir Nachrichten nach diesen Mustern, dann trifft das Bild des urbanen Flaneurs absolut zu. Wir bewegen uns durch Nachrichten, Meldungen und Texte mit behauptetem hohen News-Wert und reduzieren damit Komplexität und vermeiden Überforderung. Die „unauffälligen“ Nachrichten und Meldungen werden beiseite geschoben. Den anschlussfähigen und breit diskussionsfähigen Nachrichten wird der Vorzug gegeben. Die Zeit für Randthemen und Tiefergehendens nehmen wir uns immer weniger.
Problematisch dabei ist das reziproke Verhältnis von Rezeption und Produktion. Wenn verstärkt „starke“ Nachrichten präferiert und konsumiert werden, reagiert die produzierende Seite mit noch mehr „starken“ Nachrichten. Überschriften werden den neuen Lesegewohnheiten angepasst. Das Reißerische wird über das Stille gestellt. Schließlich wird erst mit dem Reißerischen die Nachricht zu einer wichtigen Nachricht, die man unmittelbar jetzt und sofort konsumieren muss, weil man sonst etwas grundlegendes nicht liest, nicht mitbekommt und nicht hört.
Online verschärft sich diese Problematik sogar noch. Was nicht auffällt, wird einfach nicht angeklickt. Wurde in Zeitungen das „nischige“ zumindest noch gesehen und im besten Fall kurz überflogen, ist es im News-Feed der sozialen Netzwerke bei anhaltendem Desinteresse der potentiellen Leser bald überhaupt nicht mehr sichtbar.
Der Beweis für meine Thesen wird auch auf einer Meta-Ebene mit der Überschrift gespiegelt. Soll sie lauten, wie sie eben lautet? Soll Kendrick Lamar im Mittelpunkt stehen? Oder soll auf die Unterscheidung von „schwachen“ und „starken“ Nachrichten bereits im Titel eingegangen werden?

Titelbild: (c) Herman de Keyperling, flickr.com

 

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

1 Comment

  1. Was du über starke und schwache Nachrichten schreibst, stimmt wohl. Auch das Afeu ist vom Clickbaiting nicht ausgenommen (heute natürlich Teil des Themas), aber der Vergleich mit dem Flaneur gefällt mir gar nicht. Gerade beim Flanieren fallen einem immer wieder unscheinbare Dinge auf, fleeting moments, und nicht vordringlich die „lauten“ Dinge, denen man begegnet.

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