In einer Beziehung soll man bekanntlich über alles reden – auch wenn es einmal nicht so gut läuft. Nun gut liebes Leben, lass es uns tun. Ermutigt dazu wurde ich heute Morgen von einem gewissen Hagen Rether. Ich kannte den bärtigen und Pferdeschwanz tragenden Mann zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Doch in dem sechs minütigen Video, das auf meinem Smartphone spielte, während ich meinen ersten Espresso schlürfte, stellte er sich mir eindrucksvoll vor. Er sagte schlaue Sätze wie – „der frühe Vogel fängt halt nur den frühen Wurm“ oder „die zweite Maus bekomme den Käse“ – und er stellte Fragen wie – „wieso müssen unsere Kinder schon mit 17 Matura machen, wenn sich doch ohnehin fast 100 werden?“ und „wenn alle ein soziales Jahr machen … was müssen das dann für Jahre davor gewesen sein?“
Leider kann ich das Video nicht zu Ende ansehen. Ich schaue auf die Uhr – Viertel nach sieben. Ich muss mich schnell anziehen, sonst komme ich zu spät ins Büro. Das darf nicht sein. Als ich gerade auf einem Bein durchs Zimmer springe, die Unterhose noch auf Halbmast und den zweiten Socken verzweifelt zwischen erstem Zeh und zweitem, muss ich laut lachen. Vor wenigen Augenblicken habe ich diesem Hagen Rether noch wild nickend zugestimmt und innerlich laut gerufen – „Recht hat er, so ises“ – nur um wenige Minuten später genau das zu machen, worüber der pferdebeschwanzte Kabarettist gerade Witze gemacht hat. Die zweite Socke fliegt in die Ecke und mein Hintern auf die Couch – ich muss das Ding zu Ende sehen.
Nachdem ich meine Schaulust befriedigt hatte, waren Hagen Rether und ich uns sicher – wir leben in einer ziemlich verrückten Welt. Früher hieß es, die Alten kommen mit dem schnellen Tempo der Jungen nicht mehr mit, heute leiden schon junge Väter Anfang 30 an Restless-Legs-Syndrom und Kleinkinder an stressbedingten Depressionen. Früh aufstehen ist in unserer Gesellschaft ein Zeichen für Tugendhaftigkeit und Fleiß. Warum? Weil das bei den Preußen schon so war. Das amüsiert nicht nur mich, sondern auch Sandy – die in der Schule zu müde zum Lernen war und heute im Laufhaus arbeitet. Dort kommt nämlich nur Günther früh und der ist eine faule Socke – lässt sie alles alleine machen.
Aber der Mann (Hagen Rether) hat recht. Was soll das? Wir werden immer älter und wollen, nein müssen immer früher. Matura mit 17, Uni mit 18. Dazwischen am besten zwei Praktika in renommierten Kanzleien oder Redaktionen. Mit 21 den Bachelor fertig, mit 23 den Master. Und dann? Dann sind wir zu jung, um in der Geschäftswelt wirklich ernst genommen zu werden. Außer gelernt, haben wir nicht viel. Und wer es nicht einmal bis hierher geschafft hat, hat sowieso verloren. Um ja nirgends zu spät zu kommen, fahren wir alle Auto und mittags stopfen wir uns rasch eine Wurstsemmel to go in die Figur. Dass uns das ungesund und dick macht, ist kein Problem. Wir gehen nach der Arbeit einfach schnell ins Fitnessstudio zum Cardio Express Training. Das geht sich glücklicherweise alles aus, wir haben ja ein Auto.
Freunde treffen wir nicht mehr aus Freude, sondern weil es erledigt gehört. Ein schneller Kaffee hier, ein kleines Bierchen da. Das Besprochene ist schneller vergessen, als der Alkohol abgebaut. Wir fetzen durch eine Welt, die sich immer schneller zu drehen scheint. Dabei bekommen wir nur schemenhafte Bruchstücke der Wirklichkeit mit und arbeiten auf ein Ziel hin. Auf ein Ziel. Ja, auf ein Ziel. Wirklich auf ein Ziel? Gestern hatte der Philosoph Ludwig Josef Johann Wittgenstein Geburtstag – in zwei Tagen übrigens Sterbetag. Zu Lebzeiten schrieb er unter anderem Folgendes: „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, daß ihm dies einmal aufgefallen ist. – Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf.“
Und so irren wir über die Rennstrecke namens Leben. Dass Rennstrecken meist Rundkurse sind, ist egal. All das sind keine neuen Erkenntnisse. Ich für meinen Teil will aber kein Rennfahrer mehr sein. Die leben nämlich gefährlich und verbrennen sich schon mal … . Waghalsige Überholmanöver, Zusammenstöße und Express-Boxenstopps sind kein Ausdruck von Siegermentalität, sondern ein verdammt ungünstiger Lebensentwurf. Vielleicht gelingt es mir den Helm an den Nagel zu hängen, ein paar PS zurück zu nehmen und einen Gang runterzuschalten. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls habe ich es mir von der Seele geredet (hier in schriftlicher Form) und das ist es, auf das es bei einer gesunden Beziehung ankommt. So liebes Leben, nun bist du am Zug!
Hier geht es zur vorherigen Folge von "Kleingeist und Größenwahn".